Nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sind die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Anders als von den Parteien suggeriert, heißt das nicht, dass es Gewissensentscheidungen ("freigegeben") und andere Entscheidungen (als Fraktionsdisziplin verbrämter Fraktionszwang) gibt, sondern vielmehr, dass die Abgeordneten bei jeder einzelnen Abstimmung im Parlament (und in den Ausschüssen) allein nach ihrer eigenen Überzeugung abzustimmen haben. Nur so können sie die Wähler repräsentieren, die, könnten sie selbst abstimmen, ebenfalls nach ihrer eigenen Überzeugung abstimmen würden. Dies meint Art. 20 Abs. 2 GG, in dem es heißt: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt." Die Parteien wirken nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG bei der politischen Willensbildung des Volkes (nur) mit. Tatsächlich bestimmen sie die politische Willensbildung jedoch so gut wie allein (und nicht die Wähler mittelbar über die nach ihrer eigenen Überzeugung abstimmenden Abgeordneten). Erreicht wird das vor allem dadurch, dass jeder Koalitionsvertrag die Klausel enthält, dass wechselnde Mehrheiten ausgeschlossen sind. Damit riskiert jeder Abgeordnete, der mit seiner Stimmabgabe eine Abstimmungsniederlage der Regierungskoalition herbeiführt, das Ende der Koalition mit der Gefahr von Neuwahlen und dem Verlust des Abgeordnetenmandats. Hier wirkt sich verschärfend aus, dass die Parteien nach dem Bundeswahlgesetz (und entsprechend nach den Wahlgesetzen der Länder) bestimmen, wer überhaupt zur Wahl steht. Durch das Instrument der Fraktionen, die das Grundgesetz ursprünglich nicht vorgesehen hat (sie wurden von den Parteien mithilfe der Geschäftsordnung des Bundestages installiert und werden nur in Art. 53a GG bei der Besetzung des Notbundestages im Verteidigungsfall erwähnt, der erst 1968 eingefügt wurde) haben die Parteien die Möglichkeit, Abgeordnete, die nicht weisungsgemäß abstimmen, aus der Fraktion auszuschließen und dadurch ihre Mitwirkung in den Ausschüssen zu beenden, in denen nach der derzeitigen Praxis die eigentlichen Entscheidungen getroffen werden.
Dass der für die "normalen Entscheidungen" bestehende Fraktionszwang die Abstimmungsergebnisse verfälscht, demonstrieren die Abstimmungsergebnisse in den sogenannten "freigegebenen Abstimmungen" wie zuletzt zur allgemeinen Impfpflicht. Während die einrichtungsbezogene Impfpflicht (§ 20a IfSG) mithilfe des Fraktionszwangs mühelos durchgesetzt wurde, konnte die Einführung der allgemeinen Impfpflicht wegen der Freigabe der Abstimmung nicht durchgesetzt werden. Dass letztlich alle Gruppenanträge abgelehnt wurden, war allerdings auch das Ergebnis davon, dass eine Fraktion für sich trotz der Freigabe der Abstimmung am Fraktionszwang festgehalten hat. Da der Fraktionszwang also offensichtlich die Abstimmungsergebnisse verfälscht, ist er verfassungswidrig und gehört abgeschafft.
Das Grundgesetz selbst enthält eine vorbildliche Regelung einer effektiven repräsentativen Demokratie, die das Gegenteil einer bloßen Scheindemokratie ist. Leider haben die Parteien mithilfe der Geschäftsordnung des Bundestages, die sich der Bundestag nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG selbst gibt, und mithilfe des Wahlrechts das im Grundgesetz verankerte Prinzip der repräsentativen Demokratie ausgehöhlt (zum Wahlrecht: nach dem Grundgesetz sind Abgeordnete zu wählen und keine Parteien. Da Parteien keine Abgeordnete sein können und niemand mehr Rechte übertragen kann, als er selbst hat, können auch die von Parteien entsandten Personen keine Abgeordneten sein. Sie sind keine Volksvertreter, sondern von den Parteien abhängige Parteivertreter und handeln auch so). Insbesondere, wenn Bundeskanzler und Vizekanzler gleichzeitig die Vorsitzenden der Parteien sind, können sie nach dem bestehenden System die Abstimmungsergebnisse im Bundestag bestimmen, was strukturell nichts anderes ist, als Diktatur. Insofern haben die 31 % also recht. Das diese Erkenntnis in der ehemaligen DDR weiter verbreitet ist, dürfte daran liegen, dass man dort mit einer noch offensichtlicheren Scheindemokratie schon zu tun hatte und dadurch sensibilisiert ist. Westdeutsche Verfassungspatrioten wie ich haben es schwerer, sich dieser Erkenntnis zu öffnen.
In den Bundesländern ist die Rechtslage vergleichbar. In neuen Bundesländern wurde die dargestellte Verfälschung der Verfassung mithilfe der Geschäftsordnung des Bundestages gleich in die Landesverfassung übernommen und lässt sich daher schwieriger bereinigen als auf Bundesebene, wo nur die Geschäftsordnung des Bundestages geändert werden müsste statt der Verfassung selbst, um eine effektive repräsentative Demokratie wiederherzustellen. Nach meiner Überzeugung ist das der einzig gangbare Weg zur Demokratie und nicht etwa die Stärkung der direkten Demokratie. Dass direkte Demokratie gefährlich ist, hat sich schon im alten Griechenland gezeigt, vor allem aber in der Hitlerzeit. Deswegen hat man sich für das Grundgesetz für die repräsentative Demokratie entschieden - aber eben nicht für die aktuell installierte "Parteiendemokratie".