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  • archenoe

mehr als 1000 Beiträge seit 05.02.2004

Moralismusfalle im multipolaren Weltordnungskrieg

Kein ideeller Gesamtkapitalist, also keine Staatsführung sagt offen, welche Ziele mit Verträgen, Bündnissen, Patentstreitigkeiten, Wirtschaftssanktionen (von Ein- und Ausfuhrbestimmungen, inkl. Zöllen, über Transferbehinderungen von Waren und Kapital, Einfrieren von Guthaben (= temporärer Diebstahl) bis hin zum Embargo), Aufrüstung, Kriegsdrohung und Übergang vom Wirtschaftskrieg zum Schießkrieg verfolgt werden.

Es geht um Vorherrschaft (Hegemonie) in ökonomisch und geostrategisch wichtigen Zonen, also den möglichst ungehinderten und profitablen Zugriff auf Ressourcen jedweder Art (inkl. Arbeitskräfte).

An diesem Hegemonialkampf können diejenigen Staaten oder Staatenbündnisse Erfolg versprechend teilnehmen, die bereits aus vergangenen Hegemonialkonflikten herausragende ökonomische und damit politische und militärische Ressourcen angesammelt (konkret v.a USA) oder diese zumindest zum Teil (konkret v.a. Russland, aber auch Großbritannien und Frankreich) als Ergebnis aus diesen Hegemonialkonflikten noch zur Verfügung haben oder die sich wegen wachsender ökonomischer und in der Folge auch militärischer Stärke einmischen können (konkret v.a. China und tendenziell auch Indien). Dazu gesellen sich jeweils mehr oder weniger bündnisfähige Staaten mit z.B. in Energie umwandelbare Bodenschätze wie Erdöl, Erdgas, Kohle (z.B. arabische Staaten und Russland) oder ökonomisch relativ starke Staaten (z.B. Japan, Südkorea, einige westeuropäische Staaten) oder auch Staaten, die sich Nuklearwaffen beschafft oder entwickelt haben oder dies anstreben (z.B. Pakistan, Iran, Nordkorea, Israel).

Die Hegemonialkonflikte verlaufen in widersprüchlicher Form, weil nach Kolonialismus und Imperialismus zum Teil bereits die beiden Weltkriege und in wachsendem Maße alle nachfolgenden Kriege in zunehmender internationaler Kapitalverflechtung (siehe TNK = transnationale Konzerne) stattfinden, sodass der ständig praktizierte Wirtschaftskrieg nicht nur den jeweiligen Konkurrenten trifft, sondern auch denjenigen, der Maßnahmen gegen Konkurrenten im Wirtschaftskrieg ergreift. Das führt zu einem ständigen Hin und Her zwischen der systemisch angelegten Konkurrenz und der dennoch notwendigen Kooperation.

Ein Schießkrieg als Verschärfung des Wirtschaftskrieges ist unter solchen Bedingungen nur dann Erfolg versprechend, wenn er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ohne große Verluste für die eigene Wirtschaftskraft nahezu ausschließlich auf dem Territorium des konkurrierenden Staates "gewonnen" werden kann. Lebensverluste der als Waffen eingesetzten Soldaten oder der Zivilbevölkerung des gegnerischen Staates sind allenfalls zweitrangig. Das Ergebnis des Schießkrieges ist dabei immer offen. Die USA z.B. sind in manchen von ihnen geführten Kriegen durchaus mit einer Destabilisierung des entsprechenden Gebietes zufrieden, weil von dort für einen längeren Zeitraum keine wie auch immer geartete Gefahr mehr ausgehen kann. Im aktuellen Russland-Ukraine-Krieg ist Russland höchstwahrscheinlich auch mit mehreren Ergebnissen zufrieden - entgegen eigener Verlautbarungen.

Diese Ziele und Beweggründe können staatlicherseits deshalb nicht offen ausgesprochen werden, weil sie unschwer erkennbar einer "menschenfreundlichen" Entwicklung (individuell und gesellschaftlich) entgegenstehen und im Wesentlichen auch gegen v.a. die lohnabhängigen Staatsbürger gerichtet sind. Deshalb müssen die Kriegs"parteien" sowohl im für viele tödlichen Wirtschaftskrieg als auch im unmittelbaren Tötungskrieg (= Schießkrieg) Narrative entwickeln, die moralisch-ethisch vertretbar, besser noch alternativlos erscheinen.

Diese Narrative entwickeln sich aber, wie kurzschlüssig zu vermuten wäre, keineswegs ausschließlich von "oben nach unten" und sind deshalb auch keineswegs reine Manipulationsfolge, sondern werden insbesondere aus der halluzinierten Gemeinschaft der lohnabhängigen Zwangsbürger heraus befeuert, die gerade in einem Schießkrieg eine tiefe Sehnsucht nach klarer Freund-Feind- bzw. Gut-Böse-Zuordnung praktizieren, weil sie ohnehin in Konkurrenz- und Kompensationshandlung geübt als Nationalbewusste oder Nationalisten oder in verschärfter Form als Ethnozentristen und Rassisten in diesem Narrativ gefangen sind, das wahlweise feindliche Staatsführer, Bevölkerungsteile oder gleich die gesamte Staatsbevölkerung des feindlichen Staates für krank, irre, sadistisch oder besonders gewalttätig hält, aber auch als minderwertig oder gar nicht mehr zur Menschheit gehörig stigmatisiert.

Die zu großen Teilen selbst gestellte Moralismusfalle, die durch staatliche Zensur und Propaganda abgesichert und verstärkt wird, besteht nun darin, dass im Schieß- und Tötungskrieg, besonders wenn es um für solcherart Krieg typische chaotische Frontverläufe, Mischung aus Schießerei am Boden und aus der Luft, Mischung aus Fern- und Nahkampf/Häuserkampf (Letzteres auch unter partieller Beteiligung der Zivilbevölkerung) usw. mit hohem Stress- und Angstpotenzial geht, Bilder und Berichte entstehen, die neben der üblichen Kriegsgrausamkeit zusätzliche angstgesteuerte oder sadistische (auch sexuelle) oder strategiebedingte Gewalt zeigen oder vermitteln. Verschärft werden diese Bilder/Berichte durch die Beschönigungen, Dramatisierungen, Verschleierungen, Lügen etc. der Staatsführungen und Militärs und der auf Schießkrieg, Rache, Ehre usw. gepolten Medien und via Internet inzwischen auch vieler Privatpersonen, die regelmäßig das Mörderische und Böse, das das Wesen des Schießkrieges ausmacht, selbstverständlich ausschließlich dem Gegner/Feind unterschieben.

Dieser Infokrieg im Schießkrieg - übrigens auch im "normalen" Wirtschaftskrieg, dort aber deutlich schwächer - bestärkt die Angehörigen einer Nation (die Zwangstaatsbürger) in ihrer ohnehin schon latent vorhandenen Haltung, der Feind/Gegner sei das grundsätzlich Böse und "Wir sind die Guten". Dem Bösen aber, so das Narrativ, das ich als Moralismusfalle bezeichne, kann man nicht "im Guten" begegnen, sondern nur mit gleicher oder im besten Falle stärkerer Waffengewalt.
Dieses Narrativ kann so stark sein, dass der vermeintliche oder tatsächliche Aggressor auch so bekämpft werden muss, dass der eigene Untergang, zur Not auch des nahezu ganzen Staates bzw. der ganzen Gesellschaft oder sogar großer Teile des Planeten akzeptiert wird, weil "man" sich im Recht fühlt, weil "man" moralisch-ethisch gar nicht anders entscheiden könne. Die Logik des Schieß- und Infokrieges basiert auf einer nach oben offenen Grausamkeitsskala, im jeweils herrschenden Narrativ selbstverständlich so, dass nur der Konkurrent/Gegner/Feind/Aggressor für diese Grausamkeit verantwortlich ist auch für die moralisch-ethisch gebotene eigene Gewalt.

Die Sicht von "Dritten", interessanterweise häufig aus den Weltregionen, die noch vor gar nicht so langer Zeit von der "Ersten Welt" als "Dritte Welt" bezeichnet wurden, kann für diejenigen, die dem kapitalistischen Konkurrenznarrativ und dem im Schießkrieg vorherrschenden "Wir-Gut-Die-Böse"-Schema noch nicht gänzlich verfallen sind, zumindest mal eine gedankliche Atempause im Eskalationsmodus des Infokrieges erzeugen.

Konkret z.B. bzgl. Butscha führen meine Darlegungen zu der Einschätzung, dass es eher wahrscheinlich ist, das dort russische Soldaten (nicht notwendig alle, möglicherweise nur wenige, aber eben russische) im Rückzug totalen Krieg praktiziert haben und auch Wehrlose ermordet haben, also dem westlichen und v.a. dem ukrainischen Narrativ Nahrung geliefert haben.

Konkret heißt das aber auch, dass hier im noch bombenfreien Sessel sitzend das westliche Narrativ bei vielen so tief verankert ist, dass die ukrainische Kriegsführung überhaupt nicht kritisch beleuchtet wird und alle anzunehmenden Gräueltaten von dieser Seite nicht beachtet bzw. gar nicht erst publik werden. Die Grunderkenntnis, dass im Krieg bestimmte psychische Konstellationen bei einigen "Kämpfern" über die ohnehin schon vorhandene Grausamkeit hinausgehende Handlungen nicht nur ermöglichen, sondern massiv antriggern, gerät dabei völlig aus dem Blick. Das Böse gibt's angeblich nur auf der einen Seite.

Hinzu kommt, dass der (Bürger-)Krieg in der Ukraine vor dem 24. Februar 2022 im Westen entweder gar nicht wahrgenommen oder bereits als von Russland gesteuerter und unterstützter Krieg eingeschätzt wurde. Die Tatsache des von Putin befohlenen Überfalls auf die Ukraine ab dem 24. Februar 2022 wird dadurch keineswegs in Frage gestellt. Sie erleichtert jedoch die Durchsetzung des westlichen Narrativs unter Missachtung oder Umdeutung der gesamten Vorgeschichte seit 1989/90/91 bis zum Februar 2022.

Entscheidend ist, das große Teile der russischen Bevölkerung in der Moralismusfalle der putinschen/russischen Erzählung gefangen sind (Sonderoperation, Rettung Russlands, Entnazifizierung der Ukraine etc.) und die Mehrheit im Westen (in Deutschland eine überwältigende Mehrheit) im westlichen Narrativ gefangen sind (Putin als verrückter Aggressor, russische Soldaten als besonders mörderische, der Westen als friedliebender an den Ursachen des Krieges völlig unbeteiligter Akteur, der nun aber moralisch-ethisch verpflichtet ist, massiv einzugreifen etc.)

Dass diese Kriegs- und Infokriegslage der politischen Klasse der Ukraine (Selenskij, Kuleba, Melnyk) Tür und Tor für eine Eskalationsrhetorik öffnet, die einen Schießkrieg zwischen Russland und der NATO, einschließlich der Option des Atomwaffeneinsatzes, für zweckmäßig und moralisch geboten hält, ist nicht verwunderlich. Die deutschen Politiker*innen, deren politisches Amt von ihnen Einschätzungen und Entscheidungen verlangt, sind "offene Bücher" der oben beschriebenen Widersprüchlichkeiten.

Scholz hat das Gut-Böse-Schema nur scheinbar widerwillig übernommen, er vertritt es. Scholz hat aber noch Widerstände in der Moralismusfalle, in der er steckt, zum exzessiven Höhepunkt zu kommen, will also bis jetzt eine Schießkriegsteilnahme vermeiden. Er versucht noch, die Waffen des Wirtschaftskrieges zu schärfen, ohne zu einem Schießkrieg übergehen zu müssen, will aber Deutschland "in der Zeitenwende" mit einer massiven Aufrüstung möglichst schnell dafür in die Lage versetzen.

Habeck argumentiert ähnlich, nur offener. Er benennt sogar die Widersprüchlichkeiten, schleift aber eine ökologische Position nach der nächsten, damit Deutschland vom russischen Gas und Öl unabhängig werden kann, um Russland in die Knie zu zwingen oder zukünftig auch militärisch abwehren und angreifen zu können.

Baerbock spielt auf der Klaviatur der Emotionen, die von den Kriegsbildern gefüttert werden, sie spricht grundsätzlich zuerst über die Kinder, die im Krieg leiden und sterben. Sie sagt damit nichts grundlegend Falsches, zieht aber die Fesseln der Moralismusfalle dadurch besonders fest und eng. Allerdings hat sie noch erhebliche Vorbehalte, deutsche Kinder (und Erwachsene) in möglicherweise noch viel größeres Leid zu ziehen. Ihr scheint bewusst zu sein, dass z.B. eine Flugverbotszone über der Ukraine, die von der NATO und damit auch von Deutschland militärisch gesichert werden müsste, eine Top- oder Flop-Entscheidung ist. Entweder ist Putin so verrückt, wie er auch von ihr dargestellt wird, dann wird es eine Flop-Entscheidung, oder Putin ist rationaler, als das westliche Narrativ ihn darstellt, und dann könnte es eine wirksame kriegsbeendende Maßnahme sein. Logisch völlig verfehlt ist die Argumentation, weil Putin irre, narzistisch und größenwahnsinnig sei, werde er auf maximalen (auch militärischen) Widerstand mit Rückzug reagieren. Aber um Logik geht es in derartig zugespitzten Konflikten nur noch zum Teil.

Das systemisch bedingt Perverse an der Lage ist, dass dieser Schießkrieg nichts mit Menschenrechten, schon gar nichts mit "Freiheit" und auch nichts mit dem Kampf Demokratie gegen Diktatur zu tun hat, sondern die Fortsetzung der Hegemonialkämpfe mit unmittelbaren Tötungswaffen ist. Sämtliche Idealisten - vom moralisierenden Kriegstreiber bis zum Friedensbewegten - werden von den weltkapitalistisch bedingten und staatlich forcierten Hegemonialkonflikten blamiert.

In diesem Schießkrieg will Russland als eine bereits abgestiegene Weltmacht, die aber atomar bewaffnet ist und über Energieressourcen verfügt, wenigstens noch das retten, was ein bisschen Weltgeltung und deren mögliche Weiterentwicklung ermöglichen könnte. Mit der Übernahme der Krim ist ein erster Schritt getan, die Abspaltung der südöstlichen Teile der Ukraine (v.a. Donezbecken) und ihre Eingliederung in den russischen Staat soll folgen (Narrativ: Befreiung).

In diesem Schießkrieg will die Ukraine (zumindest der westliche Teil) mit allen Mitteln in die westliche Allianz der NATO und der EU eingegliedert werden, um Russland nicht nur standhalten zu können, sondern auch um Russland in die Schranken zu weisen und ein militärisch gesicherter Teil des westlichen Systems zu werden (Narrativ: Freiheit und Demokratie).

Nicht erst in diesem Schießkrieg wollen die USA Russland so intensiv wie möglich schwächen, um im zentralen Hegemonialkonflikt des 21. Jahrhunderts zwischen den USA und China (oder unter noch weiter gefasster Perspektive zwischen USA/NATO/EU und Südostasien) eine stärkere Position zu sichern. Inwieweit die USA bereits eine absteigende Weltmacht ist, gilt als umstritten (auch bei denen, die überhaupt die globalen Konflikte als Hegemonialkonflikte im oben beschrieben Sinne bestimmen).
Ebenso umstritten ist, ob die USA die EU als Bewegungsmasse (möglicherweise auch nur als Schlachtfeld) betrachten und in einen europäischen Schießkrieg zur Russlandschwächung treiben können oder ob die USA auf die EU-Staaten in den Hegemonialkonflikten mit China angewiesen sind und deshalb die Schwächung Russlands nicht unter "Opferung" der EU durchführen wollen oder können.
Allerdings muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die USA und die europäischen Staaten, die mit den USA im NATO-Bündnis sind, gleichzeitig aber auch ökonomische Konkurrenten sind und sich deshalb in einem teils latenten und phasenweise manifesten Wirtschaftskrieg miteinander befinden.

Wie kann es unter derartigen Weltverhältnissen auch nur ansatzweise verwundern, wie zurückhaltend und abwartend sich z.B. die chinesische Staatsführung verhält. Sie unterliegt den Verhältnissen, wie sie in Hegemonialkonflikten nun mal existieren. Die autokratisch-diktatorische Organisation des staatlich geformten Kapitalismus in China ist allenfalls dahingehend von Bedeutung, dass die chinesische Führung leichter und schneller einschneidende Maßnahmen (wofür und wogegen auch immer) durchsetzen kann als die Staatsführungen im demokratischen Kapitalismus. Mehr nicht. Das westliche Narrativ über "freedom and democracy" kann die chinesische Staatsführung nicht überzeugen, ebenso zahlreiche Staatsführungen in Südostasien, Nahost und Afrika nicht, zumal nicht wenige von ihnen die Wirkung von US-Waffen schon direkt gespürt haben.

Von China eine eindeutige Stellungnahme gegen Russland wegen des Überfalls auf die Ukraine zu erwarten, ist nichts mehr als eine halluzinatorische Verblendung "im Westen", als müsse die ganze Welt ihr Narrativ gläubig und ergeben übernehmen.

Soll reichen, ist ohnehin bereits zu lang geworden.

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