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Interpretationen

Marlene schrieb am 6. April 2003 21:33

> (aus dem sumerischen Schöpfungsmythos 9000-3000 v. Chr.)

> Um den kontinuierlichen und harmonischen Gang der Welt zu
> gewährleisten und das Chaos zu vermeiden, erfanden die Götter das
> "Me", eine Reihe universeller und unveränderlicher Regeln und
> Gesetze, die alle Geschöpfe zu befolgen hatten. Das "Me" umfasst alle
> Seinsmerkmale, die den Menschen über das Tier erheben: Das Denken,
> das Wort und das Fühlen ebenso Träumen, das Königstum, die Freude an
> Tanz und Gestaltung, Kreativität und Menschlichkeit. Aber auch die
> Fähigkeit der Trauer, des Hasses und der Falschheit. Die 100
> göttlichen "ME" sollten nach und nach an die Menschen übergeben
> werden. Doch Inanna hat sie gestohlen und unter die noch nicht dafür
> reifen Menschen geschüttet.

Stellt sich rekonstruktiv die Frage nach dem Plan der Götter, den
Hass einzuführen, um den harmonischen Gang der Dinge zu bewahren.
Irgendwann
hätte dieser ja folgen müssen und dabei die Reife der Menschen nicht
mehr 
tangieren. Warum aber die Menschen dann durch ihn noch komplettieren
wollen? 
Die Einführung der verfluchten Heldin Inanna ist die Lösung der
Götter, für die
Paradoxie ihres Planes. In der Theodizee war von Beginn an der Wurm
drin: 
Anfang der Geheimdiplomatie und der politischen Intervention, die das
notwendige 
Scheitern der göttlichen Pläne zu verbergen sucht, die ja den Sinn
der Götter selbst darstellen. Die Rolle des Priesters kann dann nur
noch die des Archonten sein, der das Schlimmste aufzuhalten versucht
und den unmöglichen Weg fingiert, den die Götter selbst nicht fanden.
Viel später wird man dann Gut und Böse einführen, Gott und Teufel, um
das Scheitern Gottes in seiner primären Funktion, das Ur-Chaos zu
überwinden, erneut zu verbergen. Um ihn zu retten, trennt man ihn
schließlich noch von seiner Schöpferfunktion und erfindet eine
impotente, reine Liebe und mit ihr, den Gott des Mitgefühls und
Mitleids, mit den Menschen, der selbst nur ein Mensch sein kann. 

Es gibt freilich noch andere Interpretationen, als die
systemtheoretische. Eine, die ihrem Charakter nach, eher okkulte und
phantastische Züge trägt, stammt von dem 1997 verstorbenen
Princetoner Psychologen Julian Jaynes, aus den späten siebziger
Jahren. Sie wurde später von Neal Stephenson in seinem
Cyberpunk-Roman "Snowcrash", der ihn brühmt machte, eingearbeitet.
Julian Jaynes war der Auffassung, dass die Ordnung des Bewusstseins,
die Trennung von Wahrnehmung, Vorstellung und Selbst-Reflexion, ein
"Ich" als Schwerpunkt und Zentrum des Handelns, den Bewohnern der
antiken Theokratien fehlte. Statt eines handelnden Subjektes, dass
frei ist in seinem Gewissen und seiner Wahl, soll es seine
"kollektiven, kognitiven Imperative" als Stimmhalluzinationen
empfangen haben, die es seinen Göttern zuordnete, die
kuturgeschichtlich gesehen, aus den toten Häuptlingen und Königen
hervorgingen. Das ganze erinnert ein wenig, an das wohlbekannte
Borgkollektiv, allerdings ohne telepathische Verbindung und direkte 
Übertragung. 

Neal Stephenson hat in "Snowcrash" diese Idee aufgegriffen und einem
"Meta-Virus" die Leistung der Umpolung eines modernen Bewusstseins in
eines, dass im Modus der "bicameralen Psyche" ( Jaynes ), d.h. der
kontrollierten auditiven Halluiznation arbeitet, zugeschrieben.
Dieser Meta-Virus wird von einem Medienmoguln eingesetzt, der eine
Mischung aus Howard Hughes und Dr.Mabuse ist, um die Leute unter die
Kontrolle seines neuen "bicameralen" Reiches zu bringen.
Bezeichnenderweise wird die bicamerale Armee auch mit altsumerischer
Sprache gefüttert. Der Inanna-Mythos wird nun ins Spiel gebracht, um
die Macht der Götter zu brechen und den Menschen ihr
Selbstbewusstsein zu geben. Das "ME" ist also gerade nicht das Mem,
dass sie instrumentalisiert, sondern das Agens der eigenen
Subjektivität. 

Tloen






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