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  • the observer

mehr als 1000 Beiträge seit 18.07.2001

Andere Sicht

Dein Beitrag verströmt eine Menge Bitterkeit, gibt mir aber als
waschechten "Heiden" die Gelegenheit, eine andere Sichtweise
kennenzulernen, und ich gebe zu, bei der einen oder anderen Bemerkung
schon überrascht zu sein.

thelonious monk schrieb am 10. Oktober 2006 21:55
> the observer schrieb am 10. Oktober 2006 17:52

> > Von welcher Welt sprichst Du? Die, in der ich lebe, ist nicht total
> > säkularisiert; nicht mal annähernd.

> Kirche hat heutzutage nur noch einen Wert als 'soziale' und
> 'ethische' Institution, so a lá Stoibersche 'Werte' und die Caritas
> für die Oma. Das sind im Grunde säkulare, profane Bereichen. Alles
> andere an der Kirche ist bäh.

Diese Deine Auffassung erstaunt mich schon, denn kaum ein Christ läßt
die Gelegenheit ungenutzt darauf hinzuweisen, daß es den Menschen
außerhalb seines Glaubens unmöglich ist, ethisch verbindliche Normen
aufzustellen nach ihnen zu leben. Daß Gott den Menschen ihren
Verhaltenskodex vorgegeben hat. Daß ohne Gott die Welt in Chaos und
Amoralität versinkt.

> Die Evangelien werden 'entmythologisiert', um nicht mehr zu anstößig
> für unsere Zeit zu seien, die Wundergeschichten 'rationalisiert', die
> Sakramente ihrer 'magischen' Dimension entkleidet, alles im Sinn von,
> Glaube muss für unsere Zeit akzeptabel sein. Die Gesellschaft möchte
> die Sakralität der Priester regulieren, so etwas wie das Zölibat und
> dessen sakraler Charakter ist in unserer Zeit obszön und wird
> praktisch nicht mehr verstanden.

> Die religiöse Folklore und der naive Volksglaube ist bis auf Reste
> ausgestorben, die Sukzession und die Weitergabe von Glauben ist nicht
> mehr gesichert.

Das Aussterben des naiven Volksglaubens kann ich nicht ganz
nachvollziehen. Auch die Menschen sind heute kaum weniger "anfällig"
für Mythen, für Mysterien, wenn es auch in der Summe weniger Menschen
sein mögen. Nur daß ihr Glaube nicht die Aufschrift "Christentum"
trägt. Vielleicht kehren die Menschen zu den alten Mythen zurück,
weil ihnen die Idole dieser Zeit ("Der Mensch ist, was er besitzt")
keine Orientierung mehr bieten? Weil ihnen in einer Welt der Technik
und des Kommerz etwas fehlt?

> Du siehst vielleicht noch Kirchen in deiner Stadt,
> aber geh doch mal rein, wer ist den in ihnen? Fast nur alte Damen.

> Die Bilder vom Papstbesuch waren ja großartig, hundertausend jubelnde
> Menschen ect., aber wirf mal ein Blick hinter die Kulissen....
> ...Du siehst vielleicht noch eine
> Kirche, ein Kloster, aber gibt es noch ein spirituelles Leben in ihm?

Das kann ich nicht beurteilen...

> Und das ist nur ein Teil. Begriffe wie 'heilig' oder 'Seele' sind
> praktisch nur noch zur Parodie benutzbar. Oder mach ein Test. Fang
> ein Satz ernsthaft mit 'Gott' an, wenn du mit jemand in einer
> Diskussion bist. Gott ist das bäh-Wort schlechthin geworden, es gibt
> inzwischen so ein richtigen Horror vor den Frommen.

Es kommt wohl immer darauf an, wie einem ein Frommer begegnet (und
wem er begegnet). Und die Menge der Themen, die zwischen Atheisten
und Theisten besprochen werden, ist nicht sehr groß. Ich selbst kann
mit ausgesprochener Frömmigkeit wenig anfangen, vor allem, wenn sie
sich mir aufdrängt. Ich kann über Religiosität und Religion
diskutieren, aber mit wievielen; und was wird dabei herauskommen, was
nicht schon diskutiert und festgestellt wurde?

> Wenn du Gott
> einfügst, außer du distanzierst dich sofort von jedem Form von
> Glauben, ist die Aufmerksamkeit deines gegenübers sofort weg. Egal
> was nach Gott kommt, es wird nicht mehr wargenommen, ist unwichtig.

> Na ja, ich meine schon, in gewisser Weise in einer säkularen Welt zu
> leben.

Die Frage ist also: Was ist es, was den (christlichen) Glauben einst
für den Menschen so anziehend machte, und was ist es, was ihn in
jüngster Vergangenheit wieder aus den Kirchen vertrieb? Und in
Fortsetzung: Was könnte ihn der Kirche wieder näher bringen; und
wollen wir überhaupt, daß sich diese Zustände wieder einstellen?

Antworten auf diese Fragen gibts viele, wie es auch viele Ursachen
gibt. Eines aber ist sicher: Jede Gesellschaft ist ständig im Wandel
begriffen, und diesem Wandel unterliegt ein jeder in dem gleichen
Maß, wie er ihn auch selbst mit herbeiführt.

Wie hat es ein Philosoph (E.R. Sandvoss) ausgedrückt? "Es wäre weit
gefehlt, eine geradlinige Entwicklung des Bewußtseins von der Magie
zum Mythos, vom Mythos zum Logos und vom Logos zur Ratio anzunehmen.
Nicht minder unangemessen wäre es jedoch auch, gar keine Entwicklung
des menschlichen Bewußtseins vorauszusetzen. Tatsache ist, daß Spuren
von Rationalität schon auf der Ebene der Magie zu beobachten sind,
aber auch Spuren von Magie und Mythos im modernen Bewußtsein."

Vielleicht sind also die großen (institutionellen) Religionen
wirklich ein Auslaufmodell, weil der Mensch beginnt, erwachsen zu
werden? Und weil das, was Du als Verfall ansiehst, ein Reifeprozeß
ist?

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