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  • Daelach

mehr als 1000 Beiträge seit 11.05.2004

Nietzsche und das Christentum

Was Nietzsche im Grunde nie wirklich verstanden hat, das war, wieso
sich das Christentum im römischen Reich überhaupt durchsetzen konnte.
Dafür gab es gute Gründe.

Er erkannte richtig, daß das Christentum eine geeignete
Trostideologie für die zu-kurz-Gekommenen war - aber er scheute vor
der Fragestellung zurück, was sich im römischen Reich geändert hatte,
daß es offensichtlich schließlich mehrheitlich aus eben solchen
Leuten bestand. Oder drastischer gesagt, daß das römische Reich den
Bewohnern nichts mehr zu bieten hatte.

Es wäre genau die Aufgabe der von ihm durchaus bejubelten römischen
Oberschicht gewesen, das Reich so zu gestalten, daß es eine
Perspektive für die Mehrheit bereithielte. Das haben sie aber nicht
getan, was im Übrigen auch in Rom selbst als Dekadenz und purem
Egoismus der Oberschicht bemängelt wurde.

Insofern ist Nietzsches Kritik, daß das Christentum das römische
Reich vergiftet habe, geradezu abwegig, eben weil das Christentum zu
Beginn eine Randbewegung der Verlierer gewesen ist, die dazu gar
nicht den Einfluß gehabt hätten.

Sondern es war vielmehr die römische Oberschicht, die dem Christentum
überhaupt erst den Boden bereitet hat. Zu dieser Folgerung konnte
sich Nietzsche aber nicht durchringen, weil dann zentrale Punkte
seiner Kritik am Christentum in sich zusammengefallen wären.

Fairerweise muß man der römischen Oberschicht zugutehalten, daß dies
nicht ausschließlich persönliches Versagen gewesen ist, sondern daß
Roms Expansion am Ende war. Erstens, weil die Grenzen sowies schon
überdehnt waren, zweitens, weil sich zumal im Osten potente neue
Gegner etablierten.

Das Bezahlungsmodell der früheren Legionen mit eigenem Boden für die
Legionäre (die diesen zuvor aber noch erobern mußten), war ohne
Expansion nicht mehr möglich. "Grenzen des Wachstums" auf andere
Weise also schon damals.

Wenn es also allgemein bergab geht, was gegen Ende von Zivilisationen
der typische Fall ist, dann etablieren sich auch lebensverneinende
Religionen wieder.

Religionen, weil das Vertrauen in die Rationalität der jeweiligen
Zivilisation eben wegen ihres Niedergangs erschüttert ist.
Lebensverneinend, weil der Trend abwärts zeigt. Das sieht man z.B. in
Rom am damaligen Christentum, in Indien am Buddhismus, in China am
Taoismus, in Ägypten am Osiriskult.

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