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  • the observer

mehr als 1000 Beiträge seit 18.07.2001

Religionen und Machtgefüge

observer3 schrieb am 18. September 2014 00:42

> Artikel hat einen umfassenden philosophischen Ansatz zum Thema.

> Für genau so etwas gibt es einen gewaltigen Bedarf in der westlichen
> globalen Gesellschaft, weil ein Koordinatensystem fehlt, bezüglich
> der Einordnung der Ereignisse wie auch der Entwicklung von
> Beurteilungs- und Handlungsmasstäben, beides essentiell für eine
> bewusste Gestaltung (alternativ zum "Walten des Schicksals") der
> Zukunft.

Es fehlt vor allem eines, das allen Kulturen gerecht wird, das alle
als zumindest in großen Zügen gleichermaßen akzeptieren. Bis in die
Gegenwart hinein gibt es kaum Versuche, von Gemeinsamkeiten ausgehend
einen Konsens zu finden, dagegen überbietet man sich meist darin, das
Besondere und Trennende des eigenen Wertegefüges herauszustellen und
als _den_ Maßstab allen anderen zu präsentieren. Daraus erwachsen
Konflikte und Kriege, aus ersterem Gemeinschaftsgefühl und Frieden.

> Das heisst aber noch lange nicht, dass der Artikel in allen Punkten
> seinem eigenen Anspruch gerecht wird, oder in allen Punkten "Recht
> hat". 

> Ausgehend von einem Naturwissenschaftlichen Ansatz bräuchte es eine
> Philosophie, welche die verschiedenen komplexen menschlichen Kulturen
> aus der Evolution der Lebewesen heraus beschreibt und verständlich
> macht.

Wollen - sollten - Philosophien solche Entwicklungen tatsächlich
beschreiben, oder ist das nicht eigentlich Aufgabe der
Naturwissenschaften? Beschreibungen haben wir zur Genüge, aber es
mangelt an einer Wertevermittlung, die die Wissenschaften nicht
liefern können.

> Vor den Fragestellungen des Autors stehen dann noch frühere,
> fundamentale Fragen.
> Z.B. die, warum sich in allen Kulturen Religionen herausgebildet
> haben und was deren biologische oder gesellschaftliche Funktion war
> und ist.

> Wie immer in der Philosophie sind die Begriffe und ihre gegenseitige
> Abgrenzung ein Problem. (Wie einfach sind in dieser Hinsicht dagegen
> die Naturwissenschaften, wo z.B. Begriffe wie Impuls oder
> Geschwindigkeit für alle klar definiert sind.)
> Was ist eine Religion?
> Wenn das nicht klar definiert wird, kann jedes komplexe Muster
> geistiger Auffassungs-Prinzipien oder Handlungsmasstäbe zur
> "Religion" erklärt werden.
> Schon wird aus Wissenschaft "Logostheologie".
> Dahinter stehen unsaubere Begriffsdefinitionen.

Oder - in diesem Fall, wie ich finde - unsaubere Interpretationen
bereits bestehender Definitionen. Mögen die Definitionen einer
Religion unsauber sein, aber es gibt deutliche Abgrenzungskriterien
zur Philosophie. Viellicht kann man nicht genau sagen, was Religion
ist, aber man kann ziemlich genau sagen, was nicht Religion ist.

> M.E. kann die Entstehung von Religionen und ihre Funktion nicht
> getrennt werden von der Herausbildung großer und komplexer
> Machtstrukturen in der Menschheit, die auf diese Weise in jedem
> einzelnen Individuum verankert wurden.

Ganz sicher nicht; bereits denen, die umherziehen und eine neue
Religion verkünden, verkörpern auf eine gewisse Weise Macht. Man kann
aber von der Religion noch einen Schritt rückwärts gehen und fragen,
was denn die Menschen dazu bewegt, einer Religion anzuhängen? Ganz
sicher steht das mit dem jeweigen Kulturkreis, den gesellschaftlichen
Zuständen in Zusammenhang, in dem sie aufwachsen. Also muß man weiter
fragen: Was bewegt oder befähigt denn Menschen, überhaupt zu glauben
(denn vermutlich gibt es weitere Vorstufen von Religionen)?

> Da die Religion den Anspruch hat, über den Tod hinaus zu weisen,
> stellt sie auch ein Machtinstrument dar, den einzelnen Menschen bis
> inklusive seines eigenen Todes für den göttlichen Zweck (z.B. einen
> Kreuzzug) zu verpflichten.

Was sich vor allem in den monotheistischen Religionen herausgebildet
hat.

> Darüber hinaus bietet die Religion auch eine Welterklärung und
> einfache Antworten auf die Frage nach dem Woher und dem Sinn der
> Existenz, welche gelegentlich intelligente und sensible Menschen
> umtreiben.
> Die Entstehung des Bewusstseins hat zu einer Entfremdung des
> individuellen Lebewesens von seiner Umwelt geführt.
> Darunter leidet es und die Religion bietet hier Rezepte zur
> "Erlösung" von zweifelndem (und kritischem) Denken.

Inwieweit hat es sich entfremdet?

> Die Befreiung von der geistigen Bevormundung durch Religion war ein
> gewaltiger emanziopatorischer Akt in der abendländischen Kultur. Das
> scheint mir der Autor vergessen zu haben.
> Hierzulande wird es schwierig werden, heute z.B. Freiwillige zu
> finden für einen Feldzug zur "Reinigung" des Grabes Christi von den
> darum herum lebenden Ungläubigen. Zum Glück.

Ich wäre mir da nicht so sicher. Der Prozeß, den wir als Aufklärung
bezeichnen, hat zu keiner Zeit die gesamte Gesellschaft erreicht.
Sicherlich hat sie uns Mittel in die Hand gegeben, unser und anderer
Tun unter rationalen Aspekten zu beurteilen und daraus Schlüsse zu
ziehen, aber wird es auch immer die Bereitschaft geben, davon
Gebrauch zu machen?

> Natürlich ist es so, dass auch ohne Religion Masslosigkeit und
> Größenwahnsinn um sich greifen können und auch ein Verlust jeglicher
> menschlicher Wertmasstäbe eintreten kann. Der Nationalsozialismus war
> ein Beispiel.
> Ob man das mit Religion gleichsetzen kann, wage ich zu bezweifeln.

Die Abgrenzung zu Religionen ist tatsächlich nicht immer leicht;
gemeinsame Merkmale lassen sich dagegen leichter finden. Der
Nationalsozialismus hatte zweifellos religiöse Züge. Die auch - der
Vergleich sei mir gestattet - in den sozialistischen Staaten zu
beobachten waren. Überhaupt ist eine Diktatur von einer Idee als
Leitmotiv für die Gesellschaft abhängig, denn die Idee soll ja
Legitimität für Absichten Handlungen herstellen. 

> Es hat eher zu tun mit eigenen Absolutheitsansprüchen.
> - Der eigene Clan / Stamm / Rasse / Gesellschaft hat immer Recht
> - Wir haben die höheren Wertmasstäbe.
> - Wir wissen, was gut ist, für den Rest der Welt
> - Wir brauchen uns für unser Handeln nicht zu rechtfertigen
> - Wer anders denkt und handelt als wir ist automatisch unser Feind
> - Wir haben das Recht, unsere Masstäbe mit Feuer und Schwert in der
> Welt zu verbeiten. Sie sind ja schliesslich die einzig richtigen.

> Wir sehen diese Einstellung heute wieder aufkeimen in unserer
> Gesellschaft.
> Und sie braucht keine Religion, kein höheres Prinzip auf die sie sich
> beruft.

Sie braucht aber Menschen, die daran glauben in den Sinn, daß sie
diese Inhalte für wahr oder gültig halten, und daß sie es auch nicht
für erforderlich halten, diese Inhalte einer Überprüfung zu
unterziehen, an deren Stelle das Vertrauen setzen. Und schon sind wir
wieder eim Ursprung des Ganzen.

> Ich gebe zu, es ist ein simples Bild, aber m.E. kommen die Probleme
> der Menschheit dadurch zustande, dass es Menschen gibt, die über
> andere Macht haben wollen, die andere beherrschen wollen.
> Früher mehr durch physische Gewalt, in unseren heutigen Kulturen mehr
> durch subtile Beeinflussung, Ausbeutung und Übervorteilung.
> Diese Menschen sind durchaus intelligent und bilden komplexe
> Strukturen, in welchen sie ihre Macht über andere entfalten können.

> Was treibt solche Menschen an?
> Warum sind sie so?
> Dieser Unterschied ist m.E. entscheidend und weitgehend unverstanden.

Das dürfte kaum zu beantworten sein; zumindest die zweite Frage.
Weder die Biologen oder Neurologen noch die Soziologen dürften darauf
eine Antwort geben können.


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