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  • elklynx

mehr als 1000 Beiträge seit 07.04.2004

Ich bin neurodivergent, nicht gestört ;-)

Miteinander reden darf auch pragmatisch geführt sein, sodass man auch reden unterlassen darf, wenn man, das ist manchmal völlig zurecht, erwartet, dass man eh maßlos misverstanden wird und es den Konflikt nur verstärken wird. Darin haben viele Neurodivergente ausreichend Erfahrung gesammelt, die haben manchmal Begründungen für Nichtreden.

Ich würde zu deinem ersten Satz sagen: Vielleicht ist das so, es ist aber auf jeden Fall der Fall, dass es online, mit ein bisschen Pseudonymität viel leichter ist, offen und ehrlich zu sein. Weiß man auch nicht erst, seit es das WWW gibt. Jede Selbsthilfegruppe funktioniert nach dem Prinzip, dass du nur das über dich Preis geben musst, was du preisgeben willst - ich könnte mich also, hätte ich dafür ein Anliegen, auch in eine solche Gruppe setzen, sagen mein Name ist Elk Lynx, ich wohne irgendwo in Berlin, habe irgendwann Englisch und Philosophie studiert, das ist das, was ich hier im Forum über mich Preis gegeben habe, und niemand kann mich, wie es heutzutage heißt, doxxen und mir mein echtes Real-Life zum Horror machen für Dinge, über die ich zu offen war. Ich glaube tatsächlich, dass viele Flamewars im Internet durch manchmal Autistic Meltdown und manchmal Grey Rage ausgelöst werden. Sind von außen betrachtet ähnlich wirkende Phänomene, die betroffene Personen aber völlig unabhängig davon haben, ob sie nun im Internet oder im Real-Life sind. Neurotypische Menschen brauchen sich nicht einbilden, sie könnten einem mit einem Rataschlag, wie sie ihre Agressionskontrolle gelernt haben etwas erzählen - ja, auch Neurotypisch ekennen etwas, das sie Wut nennen, aber sie haben keine Vorstellunge, wie sich Phänomene wie Autistic Meltdown und Grey Rage anfühlen. Ich hatte meine ersten Grey-Rage-Erfahrungen als Kind im Grundschulalter und mein Stiefvater verstand das als Schauspiel mis, obwohl es brachiale Offenheit in völliger Selbstaufgabe war. Als ich Kind war, hat er, versehentlich und in dem Glauben seine Erziehungsversuche wären hilfreich, mein Trauma nur verstärkt und damit meine Neurodivergenz verfestigt. Das erste mal im Internet war ich mit 16 an einem Schulrechner und zu Hause gabs Internet erst Jahre später. Trotzdem glauben Leser von Manfred Spitzer (ob er selbst das glaubt, weiß ich gar nicht), Persönlichkeiten wie ich würden durchs Internet entstehen - wir sind aber im Internet nur sichtbarer und mir hat das Internet mit seinen Flamewars geradezu geholfen, zu erlernen, wie ich, wenn ich Grey Rage habe, aus dieser wieder rausfinden. Hinweis am Rande: "Übernimm mal persönliche Verantwortung", hilft in dem Moment null.

Meine Neurodivergenz hat auch Vorteile, einer ist, dass ich mich an die Gesellschaft meiner Jugend unverblühmt erinnern kann und weiß, dass es eben nicht "schlimmer" geworden ist. Ich wurde drei mal auf dem Weg zur oder nach der Schule "abgezogen", davon einmal auf dem S-Bahnhof, wobei eigentlich nur zweimal, weil die auf dem S-Bahnhof meine tschechischen Kronen im Portemonnaie und meinen gefaketen tschechischen Akzent verschonungswürdig fanden. Das ist nur deshalb nicht öfter passiert, weil ich, je älter ich wurde, immer mehr suspekt und damit kriminell ausgesehen habe - und das ist immernoch der Fall. Ich arbeite gelegentlich mit Jugendlichen, vor Jugendlichen, und tatsächlich werde ich auch einmal im Jahr von einem dieser Jugendlichen gefragt, ob ich mit Drogen deale - das wird man nicht los. Ich maskiere meine Neurodivergenz nicht und damit wirke ich auf Jugendliche wie ein Drogendealer, weil in deren Gesellschaft nur Drogendealer ihre Neurodivergenz nicht maskieren. Ich erinnere mich daran, dass an meinem Gymnasium die Hälfte der Schüler gekifft und ein Drittel harte Drogen genommen hat - das war die Normalität in den 90ern, an einem Gymnasium. Es gab kaum jemanden, der nicht einen Bushammer geklaut hatte, links-rechts-mitte alle trugen Stahlkappenschuhe, in der Hoffnung, mit der Androhung der Zerschmetterung der Kniescheiben potentieller Angreifer Angriffe erfolgreich abzuschrecken, und was Ülkücü ist, lernte man in der Billiardkneipe, wenn der eigene Mitspieler ein Nazi-T-Shirt trug und dafür von dem Spiel beiwohnenden Türken ernstgemeint gelobt wurde. Es ist heute nicht schlimmer als in den 90ern. Ich kenne aktuelle Schuklassen und ich kann mich unverblühmt erinnern. Der letzte Punkt trifft leider auf viele Lehrer*innen in meinem Alter nicht zu.

In Schweden nennt man erwachsene Leute wie mich Norrlandspoike (Nordlandjunge, Nordland ist das nördliche Drittel Schwedens, in dem mehr ethnische Sami und ethnische Finnen als ethnische Schweden leben) und lässt jedem seinen Raum, geht sich nicht zwanghaft in Kontaktschaffungen auf den Keks, ist aber offen für den Kontakt, wenn er erwünscht wird. Das wird von Südländern als einsam verstanden, ist aber ein Misverständnis. Finnen sind das europäische Volk mit dem größten Personal Space und Finnen sind gleichzeitig das Volk, in dem es Sitte ist, einem Linienbus mit der Fahrkarte zu winken, damit dieser anhält, und dann beim einsteigen: "Kiitos, päivää", oder etwas ähnliches zu sagen. Nordländer ermöglichen den Kontakt, wenn er gebraucht wird, erzwingen ihn aber nicht. Das entscheidende an einer Gefängniszelle ist das abgeschlossene Schloss, in dem Punkt hat der Autor in Teil 2 recht und das ist der Punkt, in dem ich in meinem zeitgleich veröffentlichten Beitrag unter Teil 2 sage, dass er "sehr nah kommt". Ein zweites Merkmal von Gefängnis ist nämlich, und das haben Gefängnisse mit Asylunterkünften gemeinsam, dass es keinen Safe-Space gibt, weil die Leitung der Einrichtung jederzeit eine Durchsuchung anordnen kann und das gelegentlich tut.

Ich poste mal auch hier, wie dort, den Link zu einer gelungenen, deutschsprachigen Einführung in Neurodiversität, auch wenn die sich auf Autismus beschränkt:
https://www.youtube.com/watch?v=5-XaxagrdVQ

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