elklynx schrieb am 01.08.2024 12:55:
Miteinander reden darf auch pragmatisch geführt sein, sodass man auch reden unterlassen darf, wenn man, das ist manchmal völlig zurecht, erwartet, dass man eh maßlos misverstanden wird und es den Konflikt nur verstärken wird.
Hm - aber wenn man die Erwartungshaltung schon hat, missverstanden zu werden, und darum nicht(mehr) spricht, in welche Spirale dreht einen das dann hinein?
Was Du sagst, erinnert mich an ein aneinander vorbeilebendes aber immer noch aus pragmatischen Gründen verheiratet bleibendes Ehepaar.
Oder eben auch ans Kind, das, egal was es sagt, alles gegen sich verwendet bekommt und schließlich nur noch schweigt, sich zurückzieht, sich seine (innere) Welt aufbaut, - und irgendwann in der Schule dessen Eltern gesagt bekommen, es sei ein Träumerle, solle sich konzentrieren, am Unterricht teilnehmen, und damit aufhören, die Lernaufgaben zu verweigern, Versetzung gefährdet, Notendurchschnitt miserabel und so weiter.
Kind kommt heim und bezieht als erstes mal Haue. Unaufmerksame Pädagogen ( früher viel schlimmer, zu Zeiten, wo eben Prügelstrafen noch 'normal' waren) - heute überforderte Pädagogen und die immerwährende Forderung, es solle statt Inklusion besser 'Sonderschulpädagogik' dann sein.
Was hältst Du davon?
Und: Miteinander reden oder miteinander Schweigen können - gerade Letzteres setzt meinem Empfinden nach tiefes Vertrauen voraus, wo man sich eben so gut kennt, daß es manchmal keiner Worte mehr bedarf. Das Unausgesprochene- das, was eher drohend schwebt, dieses innere im Widerstand ( gegen seinen Mitmensch) sein, ist das nicht das, was schließlich zu Eskalationen führen kann, weil diese dräuende Spannung schließlich sich entladen muß?
Darin haben viele Neurodivergente ausreichend Erfahrung gesammelt, die haben manchmal Begründungen für Nichtreden.
Vielleicht passt, um sich einem Verstehen annähern zu können, dies hier 'ins Bild' - eben
wegen diesem mir als spontan sehr positiv empfundenen Bild im Bezug zu den weiteren Erklärungen dann, finde ich das sympathisch beredt :)
https://gedankenwelt.de/neurodivergent-was-ist-das/
Das Bild, das erinnert gleichzeitg an Bettina Wegners Lied: 'Sind so kleine Hände' - und ebenso verletztlich auch ein kleines Gehirn - also 'sei achtsam, denn du betrittst das Gewebe meiner Träume' - könnte es sagen.
So mein Eindruck.
Ich würde zu deinem ersten Satz sagen: Vielleicht ist das so, es ist aber auf jeden Fall der Fall, dass es online, mit ein bisschen Pseudonymität viel leichter ist, offen und ehrlich zu sein. Weiß man auch nicht erst, seit es das WWW gibt.
Ich war im Beruf der sozusagen 'beinah perfekte Rollenspieler'. Will sagen: Wo man in der Dienstleistung- also im Verkauf- gearbeitet hat, mit Menschen zu tun hatte, die als Kunde wirklich wie ein König behandelt werden wollten, mit zuvorkommender Freundlichkeit,
also wo man wirklich das 'gut geschulte Servicepersonal' zu sein hatte, und sich auch seinen
beruflichen Standfestigkeit dadurch erworben hatte- musste man nach außen eine Maske tragen ( wie es innerlich aussieht, manchmal, geht ja niemanden etwas an).
Umso schöner dann, wo man sich nach der Arbeit fallen lassen kann, im vertrauten Kreis, - und unter Vertrautheit versteh ich das berühmte durch dick und dünne miteinander gehen, sich auch mal deutlich die Meinung sagen zu können, ohne daß daraufhin ein beleidigtes Türenschlagen und ein von oben herab Wertendes kam. Das ist m.M.n. der Unterschied zwischen online ( Distanz, immer auch Fremdheit, nicht wirklich Nähe) und dem Leben 'mitten drin'. Außerdem - es ist nicht Angst - aber es ist die Furcht, vor - weiter vorne erwähnst Du das ja auch: Doxxing, Stalking, übelst - wer sowas erlebt hat weiß wie schwer es ist, da sich zu wehren. Zudem dann oft hinzukommt, daß einem nicht geglaubt wird. Am schlimmsten, eben von jenen, denen man ( vielleicht zu Unrecht) vertraut und etwas erzählt hat.
Würde also sagen: Internet ist Zeitvertreib, ist , auch voneinander lernen zu können - sich über unterschiedlichste Sachen schrift-gesprächlich sich auszutauschen - aber auf ( künftig) ABSTAND zu bleiben. Keinesfalls mehr jemandem 'aus dem Internet' zu vertrauen.
Die Resilienz, der Widerstand, besteht darin, zu lernen, es sich 'wo dranne vorbeigehen' zu lassen, was geredet wird - manchmal helfen da auch 'Die Ärzte': 'lass die Leute reden!' :)
Kann schwer sein, der Weg, aber finde, metaphorisch gesagt: aufstehen ist immer noch besser als liegenzubleiben.
Jede Selbsthilfegruppe funktioniert nach dem Prinzip, dass du nur das über dich Preis geben musst, was du preisgeben willst - ich könnte mich also, hätte ich dafür ein Anliegen, auch in eine solche Gruppe setzen, sagen mein Name ist Elk Lynx, ich wohne irgendwo in Berlin, habe irgendwann Englisch und Philosophie studiert, das ist das, was ich hier im Forum über mich Preis gegeben habe, und niemand kann mich, wie es heutzutage heißt, doxxen und mir mein echtes Real-Life zum Horror machen für Dinge, über die ich zu offen war.
Gruppentherapie ist mir nicht fremd. Es könne welche sein, wo mensch sich wohlfühlt und dann auch redet, also wo die Gruppe einen - einander- aufzufangen in der Lage ist - wozu allerdings auch eine geeignete Moderation ( in dem Fall Therapeut/in) gehört - jemand, der weiß wo interveniert werden muß und wo man absehen kann, daß die Dynamik keine Negativspirale nimmt, und daher es der Gruppe überlassen kann. Aber keine Gruppe kann für einen richten, das meint: man muß schon selber auch den Willen mitbringen, den Willen, sich einzulassen.
Ich glaube tatsächlich, dass viele Flamewars im Internet durch manchmal Autistic Meltdown und manchmal Grey Rage ausgelöst werden. Sind von außen betrachtet ähnlich wirkende Phänomene, die betroffene Personen aber völlig unabhängig davon haben, ob sie nun im Internet oder im Real-Life sind.
Sind nun Begriffe, die mir komplett neu sind. Muß ich erst finden, was das meint- 'Autistic Meltdown' und 'Grey Rage'.
Neurotypische Menschen brauchen sich nicht einbilden, sie könnten einem mit einem Rataschlag, wie sie ihre Agressionskontrolle gelernt haben etwas erzählen - ja, auch Neurotypisch ekennen etwas, das sie Wut nennen, aber sie haben keine Vorstellunge, wie sich Phänomene wie Autistic Meltdown und Grey Rage anfühlen. Ich hatte meine ersten Grey-Rage-Erfahrungen als Kind im Grundschulalter und mein Stiefvater verstand das als Schauspiel mis, obwohl es brachiale Offenheit in völliger Selbstaufgabe war.
Hm - okay. Dann wäre also 'grey rage' sowas wie salopp gesagt: komplett ausrasten und dem Gegenüber alles das an den Kopf donnern, verbal, was er einem zugefügt, was man zuvor erduldet hat?
Als ich Kind war, hat er, versehentlich und in dem Glauben seine Erziehungsversuche wären hilfreich, mein Trauma nur verstärkt und damit meine Neurodivergenz verfestigt. Das erste mal im Internet war ich mit 16 an einem Schulrechner und zu Hause gabs Internet erst Jahre später. Trotzdem glauben Leser von Manfred Spitzer (ob er selbst das glaubt, weiß ich gar nicht), Persönlichkeiten wie ich würden durchs Internet entstehen - wir sind aber im Internet nur sichtbarer und mir hat das Internet mit seinen Flamewars geradezu geholfen, zu erlernen, wie ich, wenn ich Grey Rage habe, aus dieser wieder rausfinden. Hinweis am Rande: "Übernimm mal persönliche Verantwortung", hilft in dem Moment null.
Also meine Erfahrungen mit Hass und Hetze im Internet hat mich zeitweise eher komplett verschrocken und ich hab mich dann vom Acker gemacht- Rückzug. Ich fand das mir gegenüber verantwortungsbewußt. Weil das Leben außerhalb darunter gelitten hatte.
Geht nicht! Wenn das Umfeld aber da ist und sagt: Stop mal! Das ist nicht wichtig, das ist nicht die Realität, das ist, sozusagen 'nur jemand im Internet', laß dich doch von dem Depp nicht fertigmachen!' Dann ist das noch Glück! Was ist mit jenen, die da garniemanden haben.
Ist ja nicht jeder Mensch ein Resilienzpaket. Aber danke, daß Du erklärst, wie das bei Dir gelaufen ist. Menschen sind verschieden und wir können immer voneinander lernen, als Menschen.
Meine Neurodivergenz hat auch Vorteile, einer ist, dass ich mich an die Gesellschaft meiner Jugend unverblühmt erinnern kann und weiß, dass es eben nicht "schlimmer" geworden ist. Ich wurde drei mal auf dem Weg zur oder nach der Schule "abgezogen", davon einmal auf dem S-Bahnhof, wobei eigentlich nur zweimal, weil die auf dem S-Bahnhof meine tschechischen Kronen im Portemonnaie und meinen gefaketen tschechischen Akzent verschonungswürdig fanden. Das ist nur deshalb nicht öfter passiert, weil ich, je älter ich wurde, immer mehr suspekt und damit kriminell ausgesehen habe - und das ist immernoch der Fall.
Interessant! Also das mit dem 'kriminell aussehen'. ist jetzt vielleicht komplett neben der Spur, erinnert mich aber an die Geschichte von Günther Anders seinem Noah -> Die beweinte Zukunft
https://vimeo.com/37359723
wo er - ganz in Schwarz gekleidet- , so tut, als wäre ihm aktuell jemand verstorben. Und die gehässige Dorftratschgemeinheitschaft, die ihrerseits wiederum so tat, als wäre es ihr um Mitgefühl mit ihm zu tun, drängt sich neugierig und fragt ihn scheinheilig wie's ihm denn ginge, er aber weiß um die Falschheit, diese nämlich, daß es die Leute freut, in Wahrheit, daß so etwas 'Noah dem Begünstigten' auch widerfahre.
'Die Verführten werde ich noch einmal verführen', sagt er, unter anderem, aber in Wirklichkeit will er sie ja da hin bekommen, daß sie ihm - wirklich zuhören - er will sie bewahren vor dem, was auf sie zukommt, weil er ja weiß, was kommt.
Ich arbeite gelegentlich mit Jugendlichen, vor Jugendlichen, und tatsächlich werde ich auch einmal im Jahr von einem dieser Jugendlichen gefragt, ob ich mit Drogen deale - das wird man nicht los. Ich maskiere meine Neurodivergenz nicht und damit wirke ich auf Jugendliche wie ein Drogendealer, weil in deren Gesellschaft nur Drogendealer ihre Neurodivergenz nicht maskieren. Ich erinnere mich daran, dass an meinem Gymnasium die Hälfte der Schüler gekifft und ein Drittel harte Drogen genommen hat - das war die Normalität in den 90ern, an einem Gymnasium. Es gab kaum jemanden, der nicht einen Bushammer geklaut hatte, links-rechts-mitte alle trugen Stahlkappenschuhe, in der Hoffnung, mit der Androhung der Zerschmetterung der Kniescheiben potentieller Angreifer Angriffe erfolgreich abzuschrecken, und was Ülkücü ist, lernte man in der Billiardkneipe, wenn der eigene Mitspieler ein Nazi-T-Shirt trug und dafür von dem Spiel beiwohnenden Türken ernstgemeint gelobt wurde. Es ist heute nicht schlimmer als in den 90ern. Ich kenne aktuelle Schuklassen und ich kann mich unverblühmt erinnern. Der letzte Punkt trifft leider auf viele Lehrer*innen in meinem Alter nicht zu.
Da kann ich ja mit meinen Erfahrungen aus den noch eher hippie-Zeiten in München keine 'bösen' Geschichten beisteuern, außer eben denen, wo es aber so richtig schief gegangen ist für Leute, die meinten hardcore Drogen wären irgendwie 'lustig' und müssten wenn man taff sein wolle, ja doch auch ausprobiert werden. Wo man auch Leute erlebt hat, wo der Einfluß derer Eltern ( an entspr. Stelle) für den Sprößling glimpflicher ausging als für dessen Opfer ...Nazis - also offen sichtbare - gabs bei uns keine, also mindest mal hatten wir weder in unserer Lehrzeit noch in den Jahren danach Erfahrungen mit ihnen. Der alte Ungeist, das auch noch von edit- war noch deutlich allerdings in der Erziehung zu spüren. Und viel später , also auf Arbeit, in einem sehr großen Betrieb, wo alle möglichen Kulturen miteinander gearbeitet und sich auch gut verstanden haben ( bis dann der Krieg im Balkan losging) haben wir uns verstanden, gegenseitig eingeladen, gegessen miteinander und gefeiert und es war in einem Wort. echt kulturell bereichernd.
In Berlin würd ich ehrlich gesagt nicht leben mögen. Also vielleicht als junger Mensch? Damals? Heute als schon alter Mensch :) freut mich eher die Ruhe des Wohnortes wo wir leben, auch, wenns auch da nicht ohne Widerstand gegen manches geht, wo man sich sagt: na schau, das neoliberale, immer vorne dran, und für die ärmeren Leut wird eher wenig getan. Muß man sich miteinander selber helfen. Passt aber. Geht nix über Zusammenhalten.
So, wie man das auch im Süden Italiens miterlebt hat, vor x...vielen Jahren .
Zumal dort auch Lebendigkeit und Lebensfreude sehr wohlgetan hat:)
In Schweden nennt man erwachsene Leute wie mich Norrlandspoike (Nordlandjunge, Nordland ist das nördliche Drittel Schwedens, in dem mehr ethnische Sami und ethnische Finnen als ethnische Schweden leben) und lässt jedem seinen Raum, geht sich nicht zwanghaft in Kontaktschaffungen auf den Keks, ist aber offen für den Kontakt, wenn er erwünscht wird. Das wird von Südländern als einsam verstanden, ist aber ein Misverständnis.
:) klingt ja auch sympathisch. Und es klingt auch danach, daß einer des anderen Raum und Würde achtet. Ihn in Ruh' lässt, wenn das gewünscht ist. Das hat auch etwas mit Respekt
( voreinander) zu tun.
Finnen sind das europäische Volk mit dem größten Personal Space und Finnen sind gleichzeitig das Volk, in dem es Sitte ist, einem Linienbus mit der Fahrkarte zu winken, damit dieser anhält, und dann beim einsteigen: "Kiitos, päivää", oder etwas ähnliches zu sagen. Nordländer ermöglichen den Kontakt, wenn er gebraucht wird, erzwingen ihn aber nicht. Das entscheidende an einer Gefängniszelle ist das abgeschlossene Schloss, in dem Punkt hat der Autor in Teil 2 recht und das ist der Punkt, in dem ich in meinem zeitgleich veröffentlichten Beitrag unter Teil 2 sage, dass er "sehr nah kommt". Ein zweites Merkmal von Gefängnis ist nämlich, und das haben Gefängnisse mit Asylunterkünften gemeinsam, dass es keinen Safe-Space gibt, weil die Leitung der Einrichtung jederzeit eine Durchsuchung anordnen kann und das gelegentlich tut.
Also schwebt da immer die Drohung des 'fühle dich nicht sicher' - aus Erzählungen nur weiß ich, wie schlimm es im Knast sein kann. Und wie schnell es da passieren kann, daß, wo man sich einer Hierarchie nichtunterordnet ( und damit meine ich nun nicht unbedingt nur die Wächter) sich bücken muß...harte, knallharte Welt. Manchmal haben Menschen von klein an nicht die Möglichkeit gehabt, einem solchen späteren Schicksal aus dem Weg zu gehen.
Ich würde - und das sag ich alte Frau, weil ich es weiß: einem gewissen ehem. Knacki auch mehr vertrauen als jemandem, der einen erst mit säuselnden Worten versucht einzuseifen, um einen dann umso 'besser' komplett auflaufen zu lassen.
Ich poste mal auch hier, wie dort, den Link zu einer gelungenen, deutschsprachigen Einführung in Neurodiversität, auch wenn die sich auf Autismus beschränkt:
https://www.youtube.com/watch?v=5-XaxagrdVQ
Dankeschön das schaue ich mir mit Freundin zusammen in aller Ruhe an!
Weil man lernt ja nie aus!
Was Du erzählst, über die Nordländer, erinnert mich auch ein bisserl an Musik. Mari Boine,
Jan Garbarek, Ketil Bjornstad. Musik ist auch Kultur - sie erzeugt Schwingungen, und oft sehr angenehme noch dazu :) also so als Kontra- oder sollt man sagen: Antidot? gegen die Brutalität.
Da der Zufall eine manchmal auch findet, wo sie's nicht erwartet, kam der unlängst in Form eines Buches um die Ecke, das heißt: "Buntschatten und Fledermäuse- Leben in einer anderen Welt" von Axel Brauns. Es geht darin auch um Autismus. Für den Herbst, wenn die Blätter an den Bäumen wieder bunt werden, und der Außenlärm ( verursacht durch Tourismus) sich wieder gelegt hat, ist es vorgemerkt, zu lesen.
Ein dickes Dankeschön für Dein ausführliches Posting!
Denn das wirkt direkt und gradaus.
edit hat noch ein Verbuchseltes in der Zitierfunktion verbessert
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (01.08.2024 15:15).