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  • elklynx

mehr als 1000 Beiträge seit 07.04.2004

verengte Ursachenforschung

Einsamkeit ist ein Problem, es ist ein riesiges Leid, wenn es einen betrifft. Zwei SAchen stören mich aber, wie seit Jahrzehnten bei diesen Artikeln üblich.

1. Ich bin aufgrund meiner wie auch immer gearteten und von mir selbst weder vollständig verstandenen noch klar kategorisierten Neurodivergenz eher unter den Einsameren unterwegs. Ich bin in meinen 40ern und ich bin das seit mindestens 40 Jahren und ich bin nie Amok gelaufen. Damit will ich auf keinen Fall das Leid kleinreden und ich will auch auf keinen Fall einen übertriebenen Fokus auf "persönliche Verantwortung" legen, ich habe tatsächlich irgendwie sowas ähnliches wie Verständnis für die amok-gelaufenen, aber gleichzeitig weiß ich, dass ich niemals Amok laufen werde und es nervt mich innerlich, wenn ich, was gelegentlich passiert, bei Menschen, die mir in meinem Real-Life begegnen, Blicke bemerke, die von diesem Verdacht durchtränkt sind (der ist doch socially-awkward, so wie diese ganzen Attentäter von Timothy McVeigh über Columbine zu Thomas Matthew Crooks), was ich gerade nach dem Trump-Attentat tatsächlich mal wieder, ich kenne das aus meiner Lebensgeschichte ja schon mehrmals, erlebt habe. Der Schluss von: "Bei den Amokläufern, die ich in der JVA sehe, war Einsamkeit ein riesiger Grund für den Amoklauf", zu: "Einsame Menschen werden zu Amokläufern", ist, wenn der zweite Satz nicht mit weiteren Prämissen bestückt wird, ungültig - ich bin ein Gegenbeispiel, aber mich wird ein Psychiater auch nie in einer JVA kennenlernen, weil ich mich seit meiner späten Jugend immer gegen Verbrechen entschieden habe. Ich weiß nicht warum ich das habe, vielleicht ist meine philosophische Kognitionierung Teil der Begründung, vielleicht ein Drang zur Pflichterfüllung aufgrund meiner preußischen Abstammung oder ein Hang zum Kollektivismus aufgrund meiner Jungpioniererzogenheit, die widerum unbewusst meine philosophische Kongnition in Hinblick auf Intersubjektivität nähren könnte oder, dass ich tatsächlich ja gelegentlich Austausch mit der Welt habe und meine Gedanken den Weltgeist irgendwie beeinflussen. Das tun sie ja auch gerade jetzt, während du, wer auch immer du bist, diesen Beitrag liest. Das tun sie aber auch, wenn ich nach der Uni in Moabit spaziere und einer alten Dame, die beim Radeln hingefallen ist, wieder aufhelfe. Ich empfinde eben keinen Hass, auch wenn ich mir bei den Freunden, die ich habe, nie sicher bin, ob die mich wirklich so verstehen, wie ich bin, oder sie mich aufgrund meiner Neurodivergenz oft misverstehen. Vielleicht ist es das Gewahrsein dieser Risse in der Einsamkeit, die beispielsweise durch ein Jemand-Hingefallenem-Helfen entstehen, etwas, das verhindert, dass ich einen Hass auf die Allgemeinheit entwickle. Vielleicht bin ich auch nie "einsam genug" gewesen und deshalb ist es so wichtig, zwischen Einsamkeit und Alleinsein zu unterscheiden. Ich war als Iuvenis in Tanzclubs, habe dort mit vielen getanzt und war nirgends in meinem Leben so einsam wie dort und kenne aus mehreren Reportagen die Erkenntnis, dass ich bei weitem nicht der einzige bin, dem es so geht. Clubtanzen ist für Menschen mit meiner Neurostruktur eine in Hinblick auf Kampf gegen Einsamkeit völlig überflüssige Kulturtechnik - und das gleiche gilt für Fußballclubfansein oder sowas, wenn mich eben Fußball nicht interessiert und ich muss mich nicht dahin "zurechttherapieren", dass ich plötzlich ein mir fremdes Interesse an Fußball hätte, damit ich dann mit Leuten über Fußball reden kann, die aber, weil sie am echten Ich kein Interesse haben, bei meinem Sterben genausowenig da sind, wie die Whattsapp-Kontakte, von denen der Autor redet. Für einen weiteren, von meinem unterschiedlichen Blickwinkel:
https://www.youtube.com/watch?v=uunOBIBpi6E

2. In den 1980ern waren an dieser Vereinsamung Pen&Paper-Rollenspiele und Heavy Metal schuld, ab Mitte der 90er waren es Ballerspiele, jetzt ist es das Zmombi-Verhalten der Eltern - Leute, hört doch mal auf mit eurem wiederkehrenden Vorwurf an die jeweils neueste Kulturtechnik. Könnte es ganz eventuell sein, dass viele Menschen deshalb sehr wenige Sozialkontakte pflegen, weil sie im sozialen Bereich neurodivergent sind und man mit Neurodivergenz unter Neurotypischen nur dann echte Freunde finden kann, wenn die Neurotypischen herausragend neurodovergenzgebildet sind? Ich unterwerfe mich der psychiatrischen Authorität des Autors und erkenne an, dass eventuell das Zmombi-Eltern-Verhalten Social-Anxiety-Neurodiversity hervorrufen könnte, aber der Sprung davon zum implizierten: "Deshalb haben wir heute mehr Amokläufe", ist mir zu weit, insbesondere auch, weil überhaupt nicht klar ist, ob wir heute mehr Amokläufe als "früher" haben. Das hatten die Reaktionen auf Ballerspiele und davor auf Pen&Paper-D&D auch schon falsch behauptet. Neurodivergente sind erstmal da und vielleicht fallen sie heute mehr auf, weil wir immer weniger bequem Menschen in ein stabiles Hilfsarbeiterleben abschieben können - dieser Arbeitsmarktbereich ist schließlich maßlos überrannt von Arbeitskräften.

Zusätzlich erworbene Sozialfertigkeiten sollten nicht dazu führen, dass Neurodivergente ihre Neurodivergenz wegmaskieren, was eben nur dazu führen würde, dass sie zwar viele oberflächliche "Friends" aber keine "Freunde" haben. Ich glaube an der Stelle gäbe es noch Forschungspunkte gerade in Hinblick auf die professionelle Erziehungsarbeit, also die Pädagogik (und schulische Didaktik), die sich in den letzten 30 Jahren auch verändert hat. Wir rühmen uns in der Pädagogik immer damit, wie viel besser wir in der Erziehung von neurotypischen Mädchen geworden sind, wie erfolgreich wir die Benachteiligung von neurotypischen Mädchen bekämpft haben, sodass wir nicht wagen, nachzuschauen, warum wir so viele "Problemjungs" haben und ob das nicht gerade an der Fokussierung auf didaktische Mittel liegen könnte, die neurotypische Menschen (Jungs und Mädchen) besser eduzieren als die alten Mittel des 20. Jh., aber neurodivergente Menschen (Jungs und Mädchen) vielleicht eher benachteiligen - Ich seh dir in die Augen, Gruppenarbeit. Neurodivergente Personen (Jungs und Mädchen) tragen in neurotypischen Gruppenarbeiten oft wenig bei, was zum Vorwurf der Faulheit und damit zu weiterer sozialer Ausgrenzung führt. Hauptgrund des Wenigbeitragens ist aber in meinen Augen die Kommunikationsbarriere zwischen Neurotypischen und Neurodivergenten und nicht eine "Faulheit". Diese Kommunikationsbarriere überwindet man nicht, indem man die Neurodivergenten zwingt, sich "doch mal etwas besser" an die Neurotypischen anzupassen - so funktioniert Inklusion nicht. Aber jetzt laufe ich selbst Gefahr, Opfer meiner eigenen Betriebsblindheit zu werden, wie JVA-Psychiater Gefahr laufen, in jedem Einsamen einen potentiellen Amokläufer zu sehen - auch ich klebe letztlich ein bisschen an der kleinen, unrepräsentativen Blase meiner eigenen, eingeschränkten Erfahrung. 😉

P.S.
Ich habe den Videolink nachträglich geändert, weil ich mich geirrt hatte, in welchem Video das zur Sprache kommt, was ich verknüpfen wollte.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (31.07.2024 16:42).

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