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430 Beiträge seit 01.09.2000

"Das System" ist schuld?

Thanil.Bernetar schrieb am 3. Mai 2002 17:56

> Eines vorneweg: dein erstes Posting war unter aller Sau, 

Das ist Deine Ansicht. Meine Ansicht ist, daß es auf vielleicht etwas
überspitzte und provokante Art die Art der Fragen in Frage gestellt
hat, die derzeit fast überall in den Raum geworfen werden. Alle diese
Fragen laufen letztlich darauf hinaus, einen *Schuldigen* zu finden,
um dann im nächsten Schritt den Menschen zu suggerieren, man könne
durch das Abstellen gewisser Mißstände eine absolute Sicherheit vor
solchen Ereignissen wie in Erfurt garantieren. Und *das* *geht*
*nicht*. 

> > [Soziologischer Exkurs]
> Was hat das mit dem Fall zu tun? Was willst du damit sagen?

Ganz einfach: In der Praxis sieht es so aus, daß wir im Grunde in
einer relativ gewaltarmen Gesellschaft leben. Die Verbrechenszahlen
sind seit Jahren rückläufig, die Chance, daß im Haus nebenan eine
Bombe losgeht oder jemand um sich schießt ist so gering wie nie
(zumindest in Deutschland). Passieren jetzt solche Dinge wie in
Erfurt, dann ist das Entsetzen natürlich groß. Wie kann sowas nur
passieren? Wir sind doch alle so friedlich. Ja, wenn wir in Palästina
wären oder im Kosovo, dann würde uns sowas vermutlich gar nicht
schockieren, *aber hier in Deutschland*??? "Doch nicht hier!"

Um es hier also weiterhin schön ruhig zu haben (die Gewalt "der
anderen" ist ja sooo weit weg), werden hier als Konsequenz Gesetze
verschärft, Verbote ausgesprochen, Raster entwickelt, wie man
"auffällige Individuen" möglichst schnell identifizieren und
"behandeln" kann. Anstatt zu erkennen, daß es keinen 100%igen Schutz
davor gibt, Opfer einer Gewalttat zu werden, wird munter weiter mit
einer Illusion Wahlkampf betrieben, die im Endeffekt dazu führt, daß
wir am Ende von Verboten sediert einzig und allein unserem
Bruttosozialprodukt dienen. 

Diese Raster und Verbote grenzen den Spielraum, was Gewalt eigentlich
ist, immer weiter ein. Computerspiele sollen verboten werden - wer
das Verbot übertritt, macht sich strafbar. Medien sollen zensiert
werden - wer dagegen aufbegehrt, ist auffällig, führt womöglich
selbst was im Schilde. Mein Gott, merkt Ihr nicht, wie diese Schlaufe
um die Freiheit und Entscheidungsfähigkeit des einzelnen von einigen
wenigen Lobbyisten immer enger gezogen wird? Vielleicht wissen die
selbst nicht, was sie tun, weil sie nur an ihre eigene Karriere und
ihr Fortkommen denken, aber es wäre allenfalls an der Zeit, mal
wieder den mündigen Bürger zu propagieren, anstatt weitere
Einschränkungen und weitere Beobachtung möglicher Verdächtiger zu
fordern. 

Eine Schuldfrage hilft uns nicht weiter, blockiert allenfalls das
*echte* Nachdenken über die Sicherheiten, die wir haben: Wo kämen wir
hin, wenn plötzlch alle Feststellen würden, daß es keine Sicherheiten
gibt, und jeder einzelne gefordert ist, dafür zu sorgen, daß es ihm
und "der Gesellschaft" so gut wie möglich geht. 

> Monokausale
> Erklärungen bringen in hochkomplexen sozialen und psychologisch
> bedingten Zusammenhängen rein gar nichts.

Eben. Und ich gehe noch weiter und sage, daß man die Kausalitäten,
die auf ein Individuum einwirken gar nicht alle aufzählen und
benennen kann. Wenn Du die eine Ursache bekämpfst (und damit die
Freiheiten einzelner einschränkst), kommt der nächste
"Durchgeknallte" und fordert mit einer anderen Tat damit die nächsten
Verschärfungen. Darauf zielte obiger kleiner soziologischer Exkurs:
In einer Normalverteilung von Individuen wird es immer Abweichungen
geben, und je mehr Dinge verboten sind, desto mehr Abweichungen wird
es geben, die bestraft werden. Die Gesellschaft sensibilisiert sich,
bis am Ende nur noch einige wenige überhaupt handeln können. Und ich
weiß nicht, ob ich mir von denen vorschreiben lassen möchte, was ich
zu sagen und zu denken habe. Da akzeptiere ich lieber ein allgemeines
Lebensrisiko...

> Auch klar, dass man nett zu anderen sein soll.

Siehst Du. Es funktioniert sogar... *g*

> > [Verweis auf "die Gesellschaft]
> So, und hier kommt meine Frage: warum sollte das sinnlos sein?

Weil "das System" immer aus der Gesamtzahl seiner Mitglieder besteht.
Und aus diesem Grund kann man nicht "von oben" etwas verordnen,
sondern die Mitglieder der Gesellschaft müssen selbst einsehen, daß
ein gemeinsamer Konsens sinnvoll ist. Das kannst Du aber - wenn
überhaupt - nur durch Information und Entscheidungsfreiheit des
Einzelnen erreichen. Verbote und starre Regeln (mein Lieblingsspruch:
"weil es schon immer so war") erzielen kein einsichtsvolles
Verhalten, sondern Aufbegehren. Und damit stößt Du genau den
Kreislauf an, den Du eigentlich damit ausschalten willst (s.o.).

Wenn Du also wirklich etwas verändern willst, dann denk dran, daß
immer, wenn Du mit dem Finger auf andere ("das System") zeigst, drei
andere Finger auf Dich weisen. 

> Menschen sind keine rätselhaften Wesen. Hochkomplex zwar, aber nicht
> rätselhaft. 

Das sehe ich ein bißchen anders. Würdest Du von Dir selbst sagen, daß
Du Dich vollkommen durchschaust? Oder bist Du nicht auch manchmal
aufgeregt, obwohl es gar keinen *rationalen* Grund dafür gibt, tust
Du nicht auch manchmal Sachen, die Dir im nachhinein Leid tun. Wenn
es so einfach wäre, wie Du unterstellst, dann könntest Du zumindest
für Dich selbst soche "Fehler" ausschließen. Aber wenn Du Dich selbst
schon nicht 100%ig verstehst, wie willst Du das dann bei jemand
anderem (den Du noch dazu womöglich nicht mal persönlich kennst)?

> Jemand, der nicht eine extrem deformierte Psyche hat, der
> nicht eine hohe Affinität zu Gewaltanwendung hat oder der nicht einen
> von Zeit zu Zeit extrem überhöhten Hormonspiegel hat, würde niemals -
> außer in Notwehr - einfach einen Menschen (oder sogar siebzehn)
> töten. 

So? Dann schau Dich mal um: Da töten "brave Familienväter" ihre
Frauen und Kinder, Mütter ersticken kurz nach der Geburt ihre Babies,
Politiker lassen Splitterbomben abwerfen, junge Männer und sogar
Kinder werden überall auf der Welt in den Krieg geschickt und töten
Menschen, die sie nicht einmal kennen... Die Liste könnte ich noch
ewig so fortführen. Gewalt und Aggression sind in jedem Menschen
vorhanden und damit auch das Potenzial zu töten. Aber das wird in
unsere "zivilisierten" Gesellschaft, die auf Kosten anderer jeden Tag
ihr Schnitzel bekommt (auch dadurch sterben letztlich Menschen, weil
ihnen die Lebensgrundlage entzogen wird), nur zu gerne verdrängt. 

> dann würde jeder zweite Mensch mindestens einmal völlig
> unvermutet von einem guten Bekannten in den Rücken geschossen werden.

In den Rücken geschossen vielleicht nicht im wörtlichen Sinne, aber
im übertragenen Sinne geschieht es jeden Tag, daß ein Mensch einen
anderen hinterrücks betrügt, belügt, plötzlich vollkommen unvermutet
beschimpft und so weiter. Auch das ist eine Art von "in den Rücken
schießen". Weißt Du in jedem Augenblick, was Deine Worte bei jemand
anderem bewirken? Was ein Tadel vom Chef, eine schlechte Note in der
Schule, die von achtlosen Eltern dahingeworfene Bemerkung "Du
Versager!" bewirken? 

Den Schuß in den Rücken als Schlußpunkt in einer Kette von Handlungen
zu sehen, ist zwar einfach, aber auch der Schuß hat seinerseits
Wirkungen und Du wirst nicht absehen können, was sich daraus
entwickelt. Stell Dir vor, dieses Ereignis bewirkt bei einigen
Menschen tatsächlich, daß sie anfangen, über ihre eigenen
Aggressionen nachzudenken und diese in Zukunft besser zu verstehen... 

> Glaubst du wirklich, dass es nichts bringen würde, wenn wir
> versuchten, unsere Gesellschaft humaner zu gestalten?

Wie gesagt: Du kannst "die Gesellschaft" (was immer das ist) nur
"humaner" (was immer *das* - unter Berücksichtigung des vorher
geschriebenen - ist) gestalten, wenn jeder einzelne bei sich anfängt.
"Das System" kannst Du nicht eben mal so ändern. Du kannst nicht
bestimmen, daß wir ab heute alle "human" zueinander sein sollen.
Kennst Du "Demolition Man" mit Sylvester Stallone? Da siehst Du auf
satirische Art sehr schön, zu welchen Auswüchsen das führt. Und dann
laß Dich fragen, ob Du *so* leben möchtest. ;-)

> 0,1%, die dabei explodieren, und das ist unser Amokläufer.

Ja. Und ich behaupte, daß Du das nicht verhindern kannst. Erst recht
nicht, indem Du den Druck auf diese Menschen dahingehend erhöhst,
jetzt auch noch nett sein zu müssen (worauf es hinausliefe). Die
Abweichler wird es immer geben. Die durch das Raster rutschen auch.
Es gibt über 6 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Glaubst Du
wirklich, daß Du die alle davon abhalten kannst, andere zu verletzen?
Dieser Illusion hänge nicht mal ich nach... 

> Glaubst du wirklich, dass es völlig sinnlos ist, Mißstände in unserer
> Gesellschaft zu bekämpfen?

Ich glaube, daß es sinnlos ist, solange nicht jeder bei sich selbst
anfängt, die Mißstände zu bekämpfen, die er bei sich selbst sieht. 

Wenn solche Ereignisse wie in Erfurt dazu beitragen, 
daß Menschen sich ernsthaft füreinander interessieren, 
ihre Mitmenschen mit dem Respekt behandeln, den jeder einzelne von
uns verdient
und sich gegenseitig so tolerieren, wie sie sind (also mit allen
"guten" und "schlechten" Seiten), 
dann waren sie ja vielleicht doch nicht so sinnlos. 
Aber erst wenn die Individuen es selbst einsehen, *dann* wird es hier
ein bißchen wärmer. 

> Nach deiner Theorie dürfte zumindest die *Länge* deines Lebens
> gefährdet sein...

Aus diesem Grund versuche ich so zu leben, daß ich mir - sollte ich
tatsächlich "dran" sein - so wenig wie möglich vorzuwerfen habe. Oder
wie man so schön sagt: "Als sei jeder Tag der Letzte." Garantien gibt
Dir keiner.

Fenchurch.

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