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27 Beiträge seit 05.05.2002

Neuer Realismus

Was mir beim Lesen der Postings zu diesem gelungenem Artikel
auffällt, ist die unverbrüchliche Traditionalität, mit der
komplizierte Sachverhalte wie Opfer-Täter-Beziehung, Individuation
und Gesellschaft betrachtet werden.

Es ist meiner bescheidenen Meinung nach hinsichtlich der konkreten
Ereignisse relativ gleichgültig, ob der Charakter eines Menschen oder
aber sein soziales Umfeld Prägstock für eine "normale" oder "anomale"
Psyche sind. Der Begriff der "Gesellschaft", wie der der "Gene",
funktioniert in diesen Beiträgen als ein magisches Sesam, welches
einen diskursiven Raum eröffnen soll, der überhaupt nicht gegeben
ist. Die Diskussion um die Wertevermittlung, die Prägung in der
Gesellschaft ist selbst wieder nur ein gesellschaftlicher Prozeß; das
Pferd versucht, sich selbst aufzuzäumen.

Stattdessen glaube ich, daß die Erörterung konkreter, meinetwegen
formaljuristischer Fragen oder solche pädagogischer Verfahrenstechnik
hier eher fruchten. Ob "die Gesellschaft" oder "die Gene" (auch
dieses ein Begriff, der ob seines noch wenig ausgeprägten
Verständisses in der breiten Öffentlichkeit sehr schnell zur
Konfabulation hinreißt) nun schuld sind an Tragödien wie in Erfurt,
ist keine politische Frage, sondern eine
ontologisch-anthropologische, an deren Beantwortung die Menschheit
seit Jahrtausenden scheitert.

An ihre Stelle sollte eine Diskussion von Realia treten, eine
konkrete Ursachenforschung. 

Es IST bedenklich, wenn ein halbes Kind problemlosen Zugang zu Waffen
hat, die einem Feldjägerbataillon zur Ehre gereichen. 

Es IST bedenklich, wenn ein Kind in einem Raum aufwächst, wo es
beständiger, unerträglicher Gewaltverherrlichung durch die Medien
ausgesetzt wird; mehr noch, diese Affirmation der Gewalt zum
Erziehungsersatz wird. Ich bin der letzte, der einer staatlichen
Zensur zustimmen könnte. Aber die Apostel einer unbeschränkten
Darstellungsfreiheit in den Medien müssen sich die Frage gefallen
lassen, wie sie denn für die Unbedenklichkeit, die psychotronische
Gefahrlosigkeit ihrer Spielzeuge bürgen können. Ich kann mir nur
äußerst schlecht vorstellen, daß die CS-Gemeinde, die jetzt im
Internet gegen Staatszensur aufheult, sich in irgendeiner Form
pädagogisch um ihre Gemeinde verdient zu machen bereit ist. Denn die
LAN-Parties sind soziales Surrogat; sie täuschen einen kommunikativen
Raum vor, der in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist. In den Foren
der "Communities"  finden wir niemals Vorschläge zum gemeinsamen
Feiern, zur Begegnung außerhalb des tribalistischen Ritus. Das Medium
kreist um sich selber.

Und es IST bedenklich, wenn der Schwarze Peter der pädagogischen
Verantwortlichkeit von einer Instanz zur nächsten wandert. Von den
Eltern, die dem Leistungsdruck die Stelle vor der Pflege ihres
Nachwuchses einräumen, über die Erzieher, die, sich in einer Rolle
als Informationsvermittler mißverstehnd, den öffentlichen Erwartungen
zur Austarierung des PISA-Ergebnisses nachzukommen, zu den in
Auflösung begriffenen Mikrosozietäten - Familie, Clique,
Freundeskreis -, welche sich nurmehr noch als Erlebnisgemeinschaften
verstehen (Symptomatik eben der oben genannten Spielecommunieties)  -
überall finden wir die egozentrische Verkrampfung vor, die falsche
Teleologie der Leistung. Dem Druck sich verweigern ist keine
Alternative; wer nicht mitläuft, bleibt auf der Strecke. Es ist dies
eine Degeneration zur archaischen Nomadengesellschaft, die ihre
Schwächlinge als unnütze Esser, besser und modern-verständlicher
noch, als "böse Menschen" in der Wüste zurückläßt. Die Sozialisation
der Schwachen, der Schwächsten - der eigenen Kinder - wird als
gesellschaftliche Agenda ununterbrochen verschoben und findet niemals
ihre Erfüllung.

Ich glaube, daß uns eine ernsthafte, unverkrampfte Diskussion um
gesellschaftliche Konkreta mehr bringt, als hochtrabende Ausführungen
über Staatlichkeit und Anarchie.
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