Ein Auszug aus "Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus" von Shoshana Zuboff:
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Vor fast siebzig Jahren kam der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi zu dem Schluß, daß die Marktdynamiken eines ungezügelten Industriekapitalismus genau das zerstören würden, was er zu kaufen und zu verkaufen versuchte: Die »Warenfiktion«, wie er die Kommodifizierung von Arbeit, Boden und Geld nannte, ignoriere ...
»... die Tatsache, daß die Auslieferung des Schicksals der Erde und der Menschen an den Markt mit deren Vernichtung gleichbedeutend wäre.« (Karl Polanyi, THE GREAT TRANSFORMATION: POLITISCHEUNDÖKONOMISCHE URSPRÜNGE VON GESELLSCHAFTEN UND WIRTSCHAFTSSYSTEMEN.Frankfurt: Suhrkamp, 1978. S. 183
Mangels einer synthetischen Deklaration scheint Polanyis Prophezeiung sich heute zu erfüllen, und allein das sollte uns schon zu denken geben. Was also verheißt Polanyis Prophezeiung für unsere Zeit? Seiner eigenen Logik von »Shock and Awe« folgend, nahm der Industriekapitalismus die Natur aufs Korn in dem Versuch, sie im Interesse des Kapitals zu erobern; heute hat der Überwachungskapitalismus die menschliche Natur im Visier. Erst allmählich lernten wir die spezifischen Herrschaftsmethoden zu verstehen, mit denen der Industriekapitalismus seit über zweihundert Jahren die Bedingungen aus dem Gleichgewicht bringt, dieein Leben auf der Erde überhaupt erst ermöglichen. Dabei untergräbt er nichts Geringeres als die Grundprinzipien der Zivilisation. Bei all seinen Vorzügen und immensen Errungenschaften hat der Industriekapitalismus uns hart an den Rand des Schicksals der Bewohner der Osterinsel gebracht, die ihren lebenspendenden Boden ruinierten und dann Statuen errichteten, die den Horizont nach dem Beistand absuchten, der niemals kam. Wenn der Industriekapitalismus derart verheerend auf die Natur wirkte, welche Verheerungen wird der Überwachungskapitalismus an der menschlichen Natur anrichten?
(...) Die Logik des Industriekapitalismus befreite das Unternehmen von der Verantwortung für seine destruktiven Folgen: die Destabilisierung des Klimasystems und das Chaos, das sich daraus für jede Art von Kreatur ergibt. Polanyi verstand, daß ein ungezügelter Kapitalismus sich nicht von innen heraus zügeln läßt. Seiner Ansicht nach war es Sache der Gesellschaft, den Kapitalismus durch Maßnahmen an die Kandare zu nehmen, die das kapitalistische an das soziale Projekt banden, nur so sorge man für die Nachhaltigkeit von Leben und Natur. Ähnlich läßt sich die Bedeutung von Polanyis Prophezeiung für uns heute nur durch die Linse der ökonomischen Imperative des Überwachungskapitalismus begreifen, die gerade dabei sind, ihren Anspruch auf das Wesen des Menschen zu formulieren.
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Nach meinem Verständnis hat sich nach der Kommodifzierung von Boden und Arbeit das Kapital eine neue instrumentäre Macht geschaffen, die gespeist aus dem Verhaltensüberschuss der Menschen sich anschickt das Denken und Handeln der Subjekte an die Kandare zu nehmen, also im Grunde genommen die Kommodifzierung des menschlichen Geistes, nun nicht mehr lediglich im "stählernen Gehäuse der Hörigkeit" (Max Weber), nun auch gefangen von "smarten Benutzeroberflächen" (H. Welzer), die ohne Zweifel der ökonomischen Orientierung der Produktion dienen, bekanntlich ganz neue Möglichkeiten und Normalitäten schafften und für die Wirtschaft das Feld der Politik über die "Volksparteien" aufbrachen, als the people kein Interesse an Demokratie hatten und schwache Politiker die Hammelsprünge in bequeme Nester glückte - großes "Pech" für eine demokratische Gesellschaft im technologischen Übergang.