Es geht nicht darum, die Pathologisierung einfach umzudrehen. 'Die Gesellschaft' ist nicht krank, könnte sie ja auch höchstens in einem metaphorischen Sinn sein, sie ist ja im Gegensatz zum Klienten des Psychiaters kein konkretes Einzelwesen.
Es geht im konkreten Fall auch gar nicht um Gesellschaft versus Individuum, sondern um je konkrete Umgebungen, Verhältnisse, Menschengruppen, Einzelmenschen, kurz um die Lebenswelt des Betreffenden. Und es ist schon ein kategorialer Unterschied, ob ich als Psychiater den Hilfe Benötigenden als krank definiere, also unterstelle, die Problemursache liege in ihm, ausschliesslich in ihm, oder ob ich den Gesamtzusammenhang zu rekonstruieren versuche, um eventuell, ja wahrscheinlich existente nicht-intrinsische Faktoren, möglichst alles auszumachen, was seinen unbefriedigenden Zustand verursacht.
Und Achtung, es geht nicht um Schuld, es handelt sich nicht um ein moralisches Problem. Was man je konkret tun kann, hängt von den Umständen ab. Zuerst geht es darum, die hilfesuchende Person als Subjekt und nicht als Objekt ärztlicher Kunst zu verstehen.
Voraussetzung dafür ist ein geschärftes Bewusstsein für pathologisierende Verhältnisse und der Wille, nicht den in vielen Fällen zu einfachen Weg der Biologisierung zu gehen und z. B. vage, um nicht zu sagen obskure genetische Begründungen bereit zu halten. Oder die womöglich objektiv gestörte Körperchemie mit Medikamenten wieder ins Lot bringen zu wollen, statt dem sie Verursachenden nachzuspüren.
Diese letzte Bemerkung bedarf allerdings einer Einschränkung. An erster Stelle sollte stets eine gründliche somatische Untersuchung stehen, es werden durchaus Leiden auch als psychische missverstanden, die in Wirklichkeit eine somatische Ursache haben. Und auch wenn es sich nicht so verhält, können Medikamente nützlich sein, um einen extrem entgleisten Menschen überhaupt wieder ansprechbar zu machen.