Pnyx (1) schrieb am 27.06.2020 21:45:
Es geht nicht darum, die Pathologisierung einfach umzudrehen. 'Die Gesellschaft' ist nicht krank, könnte sie ja auch höchstens in einem metaphorischen Sinn sein, sie ist ja im Gegensatz zum Klienten des Psychiaters kein konkretes Einzelwesen.
Es geht im konkreten Fall auch gar nicht um Gesellschaft versus Individuum, sondern um je konkrete Umgebungen, Verhältnisse, Menschengruppen, Einzelmenschen, kurz um die Lebenswelt des Betreffenden. Und es ist schon ein kategorialer Unterschied, ob ich als Psychiater den Hilfe Benötigenden als krank definiere, also unterstelle, die Problemursache liege in ihm, ausschliesslich in ihm, oder ob ich den Gesamtzusammenhang zu rekonstruieren versuche, um eventuell, ja wahrscheinlich existente nicht-intrinsische Faktoren, möglichst alles auszumachen, was seinen unbefriedigenden Zustand verursacht.
Und Achtung, es geht nicht um Schuld, es handelt sich nicht um ein moralisches Problem. Was man je konkret tun kann, hängt von den Umständen ab. Zuerst geht es darum, die hilfesuchende Person als Subjekt und nicht als Objekt ärztlicher Kunst zu verstehen.
Voraussetzung dafür ist ein geschärftes Bewusstsein für pathologisierende Verhältnisse und der Wille, nicht den in vielen Fällen zu einfachen Weg der Biologisierung zu gehen und z. B. vage, um nicht zu sagen obskure genetische Begründungen bereit zu halten. Oder die womöglich objektiv gestörte Körperchemie mit Medikamenten wieder ins Lot bringen zu wollen, statt dem sie Verursachenden nachzuspüren.
Diese letzte Bemerkung bedarf allerdings einer Einschränkung. An erster Stelle sollte stets eine gründliche somatische Untersuchung stehen, es werden durchaus Leiden auch als psychische missverstanden, die in Wirklichkeit eine somatische Ursache haben. Und auch wenn es sich nicht so verhält, können Medikamente nützlich sein, um einen extrem entgleisten Menschen überhaupt wieder ansprechbar zu machen.
Kategorialer Unterschied - das ist richtig. Nur die Kategorien haben keinen Ewigkeitswert, sondern sind sehr stark dem Wandel unterworfen. Was vor einer Generation alles an Kategorien aufgestellt worden ist, ist heute nur noch Schall und Rauch.
Krank im metaphorischen Sinn - Nein. Das ist eine alte kategoriale Abgrenzung, die heute nicht mehr so aussagekräftig ist. Eine Gesellschaft kann erkranken und sie kann auch krank machen. Kurz: der Krankheitsbegriff wird heute nicht mehr ausschließlich am Individuum festgemacht. Er wird tatsächlich von in sich kranken Faktoren (Krankheitsträgern) befallen, auf die er seinerseits mit Erkrankung reagiert.
Es gibt tatsächlich kollektive Krankmacher, z. B. an bestimmten Stellen der Verkehrslärm - wer sich dem nicht entziehen kann, kann davon erkranken. Oder Abgase, mobbende Kollegen, alle Art von Stress - viele Dinge, denen der Einzelne ausgesetzt ist, denen er sich nicht entziehen kann und die ihn krank machen. Wobei die Erkrankung mal die Seele, mal den Körper befällt. Der eine wird depressiv, der andere bekommt ein Magengeschwür oder Krebs. Was es halt so alles gibt. Allein schon, dass eine Erkrankung physisch oder seelisch ausfallen kann, halte ich schon für einen bemerkenswerten Umstand.
Tja, der durchschnittliche Psychiater hängt halt in seinen Kategorien fest. Das ist überhaupt eine Disziplin übergreifende Problematik. Jeder Arzt, ob Seele oder Leib, kommt über den Tellerrand der Einordnungen nicht mehr hinaus. Freilich geht es irgendwie nicht anders, der Mensch muss in Kategorien denken. In der Medizin erwartet der Patient einen "Befund", er will, dass seine Krankheit beim Namen genannt wird. Aber ich denke immer an den "Schatten auf der Lunge" - und bei der nächsten CT war er wieder weg. Das war die "Schatten-Kategorie". Nun gut, ich möchte das "Vertrauensverhältnis Arzt-Patient" nicht untergraben. Es ist wohl wichtig für die meisten Menschen, dass sie an die Worte ihres Arztes/Seelenarztes glauben. Manchmal sagt der Arzt ja auch was Ordentliches. Und oft tappt er im Dunkeln.
Tatsächlich muss der Einzelne erst einmal gesund werden, wenn er denn von einer gesellschaftlich bedingten Erkrankung befallen ist. Es nutzt nichts, die Gesellschaft zu heilen, davon wird der Erkrankte auch nicht mehr gesund.
Er kann aber für sich krankmachende Faktoren erkennen, sich ihnen entziehen und sie in Zukunft meiden. Und konsequenterweise sollte er sich tatsächlich in seinem Bewusstsein damit zurechtfinden, dass er anfällig ist für bestimmte krankmachende Verhältnisse, die er meiden muss.
Das sind Bereiche, da kann man kategorial noch viel machen.
;-)
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (28.06.2020 07:16).