Leider ist die zeitgenössische Gesellschaftskritik ungefähr dabei dann stehen geblieben. Die Situation von Homosexuellen hat sich deutlich verbessert, aber das perverse der Gesellschaft ist ja damit nicht erledigt. Wir leben in einer Reihe von fest gefügten und durch-ökonomisierten Gesellschaftsvorstellungen, die weder dem einzelnen Menschen, noch den Gesellschaftsgruppen gut tun. Und wer in solchen Widersprüchen lebt, wird krank, oder wird zum Gesellschaftskritiker. Wenn aber das eigentliche Gesellschafts-Ziel die Verwertung der Menschen als eine Art etwas intelligenteren Viehs ist, sind Kritiker und alles was störend für den Mast- und Schlachtbetrieb ist. Und das wird eben weg gespritzt, sofern möglich. Die selektiven Liberalisierungen sollten nicht darüber hinweg täuschen, das in einer modernen Konsumgesellschaft auf Nutzen optimiert, vieles immer illiberal bleiben wird.
"Unzufriedenheit als Krankheit?
Die AutorInnen der Broschüre kritisieren anhand unterschiedlicher Beispiele das herrschende Verständnis von psychischer Krankheit sowie die psychologische Praxis und Wissenschaft, die dahinterstehen. Das Ausblenden sozialer Widersprüche und die Individualisierung der Probleme werden hier besonders deutlich: Gegenstand der Psychologie ist das Scheitern des Einzelnen. Symptome wie Freudlosigkeit, Angst, Sorge, Trauer, Rückzugsverhalten und depressive Verstimmung werden zu „Anpassungsstörungen“. In welchem Kontext aber diese „unbewusst-psychosomatische Revolte“ (S. 6) stattfindet, lässt die Psychologie unbehelligt. Anpassung wird zum Selbstzweck. Dabei sollte doch der Blick ins Geschichtsbuch zeigen, welche Gefahren bindungsloses Anpassen birgt, und wie notwendig es zuweilen ist, Anpassung an gesellschaftliche Praktiken zu verweigern und Widerstand zu leisten."
https://kritisch-lesen.de/rezension/kranke-menschen-oder-kranke-gesellschaft
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (28.05.2020 07:33).