... wer oben sitzt, hat selten Kontakt mit der Lebenswirklichkeit.
Ich weiß nicht, wie das durchschnittliche Politikergehirn tickt. Hab zwar eine Ahnung, aber das ist eben kein Wissen - und deshalb lass' ich mich heute diesbezüglich auch nicht mehr aus.
Aber ich weiß, wie ein Städter-Hirn tickt und das eines Landmenschen. Stadt und Land - das sind zwei völlig unterschiedliche Lebenswelten. Und das lässt sich nicht eben mit "City vs Provinz" abtun. Jedenfalls weiß ich, wie ein Städter denkt, denn ich habe gut 27 Jahre meines Lebens in einer Stadt mit 500.000 Einwohnern gelebt. Seit etwas mehr als 6 Jahren lebe ich nun in einer Kleinstadt mit rund 15.000 Einwohnern - da sind dann die umliegenden Ortschaften mit einbezogen. Also lebe ich nun etwas ländlicher als zuvor und der Unterschied ist, um's mal mit prägnanten Worten zu beschreiben, "ziemlich krass". Das ist schon ein kleiner Kulturschock für mich gewesen, obschon ich zwischendurch noch in einer rund 100.000 Einwohner großen Stadt gelebt habe.
Nur ein paar der kleinen Unterschiede, die mir so aufgefallen sind, und die ich mal unter "Kulturschock" packen würde:
Distanzen haben sich locker verdoppelt.
Abgesehen von einigen Dingen des Grundbedarfs ist in der Kleinstadt vieles nicht vorhanden, zum Beispiel eine eigene Krankenkassenniederlassung. Es fehlen auch ein Finanzamt, eine Arbeitsagentur und ein Krankenhaus, was mehr anbietet als nur ein paar Allgemeinmediziner, einen Frauenarzt und einen Augenarzt. Die Kinderklinik hat man, zusammen mit der Geburtenstation, vor Jahren geschlossen und außerhalb der Öffnungszeiten gibt's keinen Notdienst, nur eine Weiterleitung zur Uniklinik in der nächstgrößeren Stadt, 20km entfernt.
Es gibt auch kein Einkaufszentrum, keinen Elektroniksupermarkt und viele kleine und große Dinge, die man so aus der großen Stadt für gegeben gehalten hat, gibt es einfach nicht. Dafür muss man, so als Landmensch, in die nahe Stadt fahren.
Öffentlicher Nahverkehr nur rudimentär vorhanden.
Immerhin hat meine kleine Stadt eine Anbindung an den Regionalverkehr. Es gibt also eine Bahnverbindung und auch Busse fahren regelmäßig. Allerdings, je nach Linie, eben nur so alle 2 - 3 Stunden. Der Zug ist die schnellste Option, aber gut 20 Minuten zu Fuß entfernt. Der Bus dagegen braucht fast dreimal solange wie der eigene PKW, weil an jedem Stein und jedem Kaff ein Zwischenstopp eingelegt wird. Und auch innerhalb der Kleinstadt braucht der Bus eben sehr viel mehr Zeit, den Bahnhof zu erreichen, als wenn man auf dem Drahtesel oder mit dem PKW unterwegs wäre.
Ich weiß, es ist wohl ein "Luxusproblem", aber wenn man mehrere Sachen in der großen Stadt erledigen muss und am Ende schwer beladen sich in einen übervollen Bus quetschen muss oder in den Zug und am Ende noch mit dem Fahrrad die Einkäufe rumbalanciert, dann ist das weder angenehm noch zumutbar.
Die liebe Arbeit & die Erreichbarkeit.
Mein aktueller Arbeitsweg führt mich nicht in die große Stadt, sondern über eine gemischte Strecke in eine ca. 35km entfernt liegende Ortschaft. Hauptsächlich Land- und Bundesstraße mit ca. 5km Autobahn dazwischen. Abgesehen davon, dass die Strecke im Grunde doppelt so lang ist wie die Luftstrecke (ca. 20km) und lustige Umwege fahren lässt, weil es nichts kürzeres gibt, ist das tatsächlich die schnellste Option. Zwar fährt da auch ein Zug hin, aber aufgrund einer streckentechnischen Besonderheit fährt der erst in die nahe Großstadt, kehrt dort quasi um und fährt dann erst über vier oder fünf kleinere Ortschaften zum Zielbahnhof. Das dauert halt. Von dort aus sind es noch rund 15 Minuten Fußweg. Ob ein Bus fährt und wie er fährt, habe ich mich gar nicht erst getraut zu schauen.
Die Erwerbstätigkeit davor lag sogar ca. 45km Strecke entfernt, hauptsächlich Autobahn und tatsächlich "nah dran am Luftweg". Und da davor, ja, da habe ich mal in der großen Stadt gearbeitet, das waren dann nur 20km Fahrweg dahin.
Und der Vergleich ...
Ja, in der Großstadt, in der ich gelebt habe, gab's ein so dichtes ÖPNV-Netz, dass ich erstmal mit 18 keinen Führerschein gemacht habe. Auch mit 19 nicht oder mit 20. Ich glaub, ich war so 23, da hatte ich dann "aus der Not heraus" einen gemacht, weil es um eine Arbeitsstelle außerhalb der Großstadt ging und ich ja irgendwie hinkommen musste. Bis dato waren Ausbildung und Beruf mehr oder weniger in der Stadt zu finden und mit Bus & Bahn erreichbar.
Alles war mit den Öffis drin! Ob ich nun zum Jobcenter wollte oder ins Finanzamt musste oder zum Schluss mein Auto an- bzw. ummelden musste, zum Versicherungsberater wollte oder ... you name it. Alles in der Stadt, alles mit Bus und Bahn innerhalb 30 Minuten erreichbar. Klar, wollte ich auf die andere Seite der Stadt, ging wegs Umstiegen und schlechter Verbindungen auch schonmal eine Stunde Zeit drauf. Mit dem Auto war man aber auch rund 45 Minuten unterwegs, da fiel das gar nicht so sehr auf. Tatsächlich war das Auto nur minimal schneller als die Straßenbahn und obendrein auch noch teuer mit den Parkgebühren. Das war nur dann im Einsatz, wenn die Einkäufe etwas schwerer werden würden ...
Und nun der Tipp:
Einfach mal das Experiment wagen und aus dem Berliner Regierungsviertel (Elfenbeinturm) raus und mal ein paar Monde oder Sonnen auf dem Land wohnen. Das heilt ganz schnell von so Irrtümern wie "wir brauchen keine Autos". Kann schon sein, dass man in Berlin oder Köln oder Stuttgart keine Autos braucht, weil man überall hinkommt mit den Öffis und sowieso zu wenig Parkplätze existieren und es lästig ist, den Karren abzustellen.
Aber auf'm Land ist der PKW nunmal die schnellste, sicherste und flexibelste Option. Soll ich auf mein Auto verzichten, muss ich entweder wieder in die große Stadt ziehen (will ich nicht, Mieten zu teuer) oder die Arbeit kommt zu mir. Oder irgendwer zahlt mir pro Monat 2500,- Euro netto mit jährlichem Inflationsausgleich, dann lass ich das Auto für den Rest meines Lebens stehen ...
So is das.
Erst mit Schröder "Flexibilität und Mobilität" auf Kosten der Erwerbstätigen einführen, jetzt deren Mobilität klauen und "Ätschibätschi" sagen, das geht überhaupt nicht!