Eine historische Anmerkung: die Parole vom Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde von US-Präsident W. Wilson ausgegeben. Der war auch bekannt dafür, in bisher nicht bekannter Schärfe im eigenen Land die Rassentrennung durchzuführen. Das mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker war sein Beitrag zu den Versailler Verhandlungen, an denen die USA beteiligt waren, nachdem sie ziemlich spät und aufgrund von in weltgeschichtlichen Kontext eher läppischen Anlässen in den WK1 eingegriffen haben, ohne selbst viel zu riskieren. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hatte keinen anderen Sinn, als als Titel für die Einmischung in europäische Angelegenheiten zu dienen. Bekanntlich wurde zwar die Proklamation des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf der Versailler Konferenz gelobt und begrüßt, die resultierenden Verträge widersprachen dem jedoch in zahlreichen Punkten.
Meines Erachtens wäre es aufschlussreich, ein wenig nachzufragen, wie das Verhältnis von Völkern (oder mit Fremdwort: Ethnien) und Staaten eigentlich ist. Jedenfalls im "alten" Europa gibt es Nationalitäten, die immerhin mehr oder minder gut mit den Staatsgrenzen korrelieren. Sie erscheinen einheitlich hinsichtlich der einschlägig angeführten Kriterien wie Sprache, Umgangsformen, Kleidungs- und Essensvorlieben, Folklore etc. Fragt man danach, wie es historisch dazu gekommen ist, so wird klar: die Bevölkerung erscheint nicht deswegen einheitlich, weil die Staatsgrenzen entsprechend gezogen worden sind, sondern umgekehrt: weil die Leute so lange in einem gemeinsamen Staat zusammengefasst waren, hat sich diese Einheitlichkeit herausgebildet. Am deutlichsten lässt sich das am - verhältnismäßig harten - Kriterium der Sprache aufzeigen. Z.B.: der galizische Dialekt in NW-Spanien hat mehr Verwandtschaft mit dem Portugiesischen als mit dem Schrift-Spanischen. Ebenso hat der Dialekt der deutschen Küstenregionen mehr Verwandtschaft mit dem Holländischen als mit dem Hochdeutschen. Die keltischen Sprachen waren über einen zusammenhängenden Bereich in NW-Europa verbreitet, verschwanden aber nachdem diese Region aufgeteilt und in die Staaten Frankreich, Irland und England eingegliedert worden sind. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, nicht nur hinsichtlich der Sprache sondern auch hinsichtlich der anderen "typischen" Eigenschaften der europäischen Völker.
Das sollte man im Auge behalten, wenn wie von einer Selbstverständlichkeit vom quasi über-historischen Vorhandensein der Völker ausgegangen wird und deren Eigenstaatlichkeit gefordert wird. Hinter dieser Forderung steckt seitens der sich betroffen fühlenden Ethnien nur ein gewisser Chauvinismus, der unsachgemäß jegliche Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Staat in eine ethnische Unterdrückung umdeutet und überhöht, und von Seiten der auswärtigen Mächte - die ja dann letztlich das Sagen haben - das altbekannte "divide et impera".