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  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Flucht aus den Menschenställen? Never!

Mir stellt sich in erster Linie die Frage, wem oder was die Menschen, die in mordernen Industriestaaten leben, entrinnen wollen. Dem an die medialen Wände gemalten »Killervirus« oder der sichtbar zunehmenden Repression durch den Staat?

Wir haben derzeit zwei Lager, wobei die Grenzlinien nicht immer sauber zu trennen sind: Die einen sind mehr oder weniger hypochondrisch veranlagt oder geprägt, die anderen mehr oder weniger freiheitlich orientiert. Es gibt durchaus Menschen, bei denen beides zutrifft: Sie haben Angst, sich anzustecken und schwer zu erkranken oder gar zu sterben, möchten aber dennoch nicht ohne ihre eigentlich verbrieften Rechte als Staatsbürger leben.

Meine Putzhilfe (1) ist gestern mit Maske, Haushaltshandschuhen und Mantel erschienen, obwohl Sie doch im Nebenhaus wohnt und kaum eine Minute von ihrer zu meiner Wohnung benötigt. Die Hanschuhe sind nicht erklärungsbedürftig, die trage ich auch beim Umgang mit diversen Putzmitteln oder bei der Fahrrad-Reparatur. Der Mantel dagegen schon eher; den hat sie auch gleich wieder abgelegt, sobald sie in meiner Wohnung war, sie weiß nicht, weshalb sie ihn überhaupt übergezogen hatte. Für die Maske hatte sie eine plausible Erklärung: Sie will die Dämpfe der Putzmittel (Allzweckreiniger, auch ein wenig Chlor) nicht einatmen müssen. Das hatte sie früher nie berücksichtigt, aber egal, ich hab nichts gesagt. Doch auch im Freien trägt sie Maske, zieht sie aber runter, wenn ich mit ihr unterwegs bin und eine entsprechende Bemerkung fallenlasse. Immerhin bezeichnet sie die angebliche Pandemie seit längerer Zeit als Plandemie, was ein über den Mainstream hinausgehendes Bewußtsein vermuten läßt.

Das Beispiel vieler, die im Freien eine Maske tragen, zeigt neben der Angst vor Infektion aber auch einen – meiner Ansicht nach fatalen – Hang zu Konformität und Gehorsam: Lieber nichts riskieren, keine Infektion und schon gar nicht einen sozialen Konflikt. Gut bis übermäßig angepaßte Mitbürger fühlen sich beim Tragen der Maske nicht nur geschützt, sondern empfinden sich auch mental als »gut und richtig«: Seht ihr, ich bin keine Gefahr, ich schütze euer Leben, vor mir müßt ihr keine Angst haben. Doch die Maskenträger im Freien, sogar auf dem Fahrrad und im eigenen Auto scheinen immer mehr zu werden, so mein Eindruck beim täglichen Einkaufsgang. Und auch das rechtzeitige Wechseln der Straßenseite, wenn ihnen ein unmaskierter Mensch auf dem Bürgersteig entgegenkommt, scheint sich zu häufen. Dagegen werde ich kaum noch dumm angemacht, wenn ich beim Einkaufen die Maske nicht über die Nase gezogen habe, um Luft zu bekommen. Es sind nur ganz bestimmte Typen (autoritäre Charaktere) wie der junge, ziemlich dicke Mann im Supermarkt, der mich ziemlich respektlos annuschelte: »Maske hoch!«, was ich ignorierte, er wiederum mit einem »Arsch!« konterte, worauf ich ebenfalls keine Reaktion zeigte. Da denk ich mir halt nur meinen Teil, ein Diskussionsversuch wäre sowieso sinnlos. Manche Kassiererinnen scheinen auch sehr viel Angst vor den Kunden zu haben, tolerieren aber überraschend häufig die halbherzige Maskierung, so jedenfalls meine persönliche Erfahrung.

Wie ich bereits einige Male hier im Forum geschrieben hatte, (2) halte ich die modern(d)e Zivilisation für einen riesigen Menschenstall: Eine weltumspannende Organisation von Ausbeutungs- und Zwangsstrukturen, die neben der Aufrechterhaltung der herrschenden »Ordnung« auch den allgemeinen Status Quo sichert, aufgrund dessen die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden: Die derzeitige Form des Kapitalismus und der bekannten neoliberalen Narrative.

Zur Zeit lese ich ein Buch von Cornelius Castoriadis, eines laut Wikipedia (3) politischen Philosophen und Psychoanalytikers: Gesellschaft als imaginäre Institution – Entwurf einer politischen Philosophie. Das Buch wurde mir von einem Telepolis-Forenten wärmstens empfohlen, ein anderer Forent hat es dankenswerterweise für mich gekauft (ihr wißt ja, ich lebe von Hartz-IV) und mir zusenden lassen. Die Darstellungen im Buch empfinde ich als sehr bereichernd, bestätigen sie mir doch meinen schon lange gehegten Verdacht, daß das meiste, was uns Menschen umtreibt, seinen Sitz und Ursprug vor allem in unseren Köpfen hat. Aus der Buchbeschreibung auf Seite 2:

Jede Gesellschaft entwirft sich einen Horizont gesellschaftlicher imaginärer Bedeutungen, aus dem allein sie nicht nur sich, sondern auch alle anderen Geschichtsepochen notwendig rekkurent (4) auffaßt – weshalb eine »objektive« Theorie der Geschichte unmöglich ist. Die Schwierigkeiten, die sich dem revolutionären Entwurf einer Aufhebung der Entfremdung entgegenstellen, liegen Castoriadis zufolge darin, daß das abendländische Denken die Seinsweise des Gesellschaftlich-Geschichtlichen verkennt und verkennen muß. Das philosophische und das wissenschaftliche Denken beruht auf einer Onto-Logik, (5) die das Neue, Schöpferische radikal ausschließt. Anhand einer Lektüre von Platons Timaios (6) zeigt Castoriadis, wie Philosophie die logisch-ontologischen Fundamente dafür gelegt hat, daß das geschichtliche Anderswerden durch die Institution einer metrischen, »verräumlichten« Zeit auf die bloße Wiederholung des schon Vorhandenen reduziert werden konnte. Castoriadis zeigt im einzelnen, welche Operationen (nicht im Sinne einer transzendentalen Institution) immer schon vollzogen sein müssen, damit die Welt als Ensemble identischer Elemente, die sich beliebig zu Mengen vereinigen und in Teilmengen zerlegen lassen, vorgestellt werden kann. Diese Identitäts- oder Mengenlogik ist unser Imaginäres, das zwar höchst real ist, insofern es seit zweieinhalb Jahrtausenden den Sinn von »sein« und die Struktur unseres Vorstellens und Tuns bestimmt, das aber als Produkt gesellschaftlicher Imagination auch gesellschaftlich revidierbar ist. Das revolutionäre Projekt einer autonomen Selbst-Instituierung der Gesellschaft bleibt zum Scheitern verurteilt, solange es nicht auch eine grundlegende Revision des bestehenden gesellschaftlichen Imaginären in Angriff nimmt.

Ähnliches hatte ich auch selbst schon angedacht: Alle Systeme, nach denen wir uns zu richten und an denen wir uns zu orientieren gelernt haben, sind keine Naturerscheinungen oder Naturgesetze oder von diesen abgeleitet, wie immer wieder gerne behauptet wird, sondern von Menschen erdachte und der (menschlichen) Natur übergestülpte bzw. eingeimpfte Strukturen mit Modellcharakter. Man kann diesen Strukturen nicht einfach so entrinnen, ohne sie erst einmal wahrzunehmen und sie dann zu hinterfragen. Dazu sind derzeit leider nur die wenigsten willens oder in der Lage, weil ihnen solche Vorstellungen absolut fremd sind, und würden sie sie wahrnehmen, würde es mit Sicherheit noch geraume Zeit benötigen, um die Notwendigkeit zu erkennen, zuerst die eigenen inneren Strukturen zu ändern, bevor sie sich im Außen manifestieren können.

(1) Von mir unbezahlt, als Nachbarn helfen wir uns seit Jahren gegenseitig; ihr fehlt zudem, wie sie sagt, die körperliche Tätigkeit, ist sie doch seit gut einem Jahr freigestellt und erhält dennoch ihr Gehalt weiter.

(2) https://www.heise.de/forum/p-1236869/
https://www.heise.de/forum/p-32321609/
https://www.heise.de/forum/p-33266496/

(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Cornelius_Castoriadis

(4) von Strukturen, Motiven o.Ä.: sich (beständig) wiederholend, immer wiederkehrend
https://www.dwds.de/wb/rekurrent

(5) Die Ontologie beschäftigt sich mit allem, was es gibt, denn sie fragt erstens, was es heißt, daß es etwas gibt, und zweitens, welche Kategorien von Objekten existieren und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Zur Beantwortung der ersten Frage wird der Begriff der Existenz und sein Verhältnis zu anderen zentralen Begriffen analysiert. Besonders wichtig ist die Verknüpfung mit dem Begriff der Identität und die Rolle von Identitätskriterien, d.h. die Frage, ob man, wenn man eine Art von Objekten als existierend ansehen will, die Bedingungen muß angeben können, unter denen gilt, daß ein Ding dieser Art identisch ist mit einem Ding dieser Art.
https://www.philosophie.uni-muenchen.de/fakultaet/schwerpunkte/ontologie/index.html

(6) http://irwish.de/PDF/_Philosophie/Platon/Platon-Timaios.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/Timaios

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