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  • Konrad Lehmann

52 Beiträge seit 24.11.2014

Warum immer Entweder-Oder?

Warum müssen wissenschaftliche Paradigmenwechsel immer von einem Extrem ins Andere fallen? Ich würde Schleim und van Os so gerne Recht geben. Denn zweifellos ist Sinngebung wichtig, zweifellos ist „Schizophrenie“ eine Riesenschublade, zweifellos müssen Erkrankte in ihrer Individualität berücksichtigt werden. Und ganz bestimmt ist auch menschliche Zuwendung in der Therapie wichtiger als „Moleküle“. Alles richtig so weit.
Aber muss man darum übertreiben und die biologische Psychiatrie mit ihrem in Jahrzehnten angesammelten Kenntnisschatz in Bausch und Bogen verdammen? Ja, vermutlich muss man, wenn man erfolgreich und berühmt werden will. Der Welterkenntnis trägt das aber nicht bei.
Denn:
- Selbstverständlich ist eine Schizophrenie auch eine Erkrankung des Gehirns, und nicht bloß eine „genetische Anfälligkeit“ (diese unkritische Genetikgläubigkeit fand ich dann wieder putzig, zumal die Anfälligkeit auch auf nicht-genetischem Wege entstehen kann). Und man weiß mittlerweile viel Faszinierendes darüber, was im Gehirn von Schizophrenen passiert. Die fehlentwickelten Pyramidenzellen im entorhinalen Kortex, die Fehlverschaltung („dysconnection“) zwischen Stirn- und Schläfenlappen, Auffälligkeiten im Dopaminsystem etc.. All das und viel mehr ist gezeigt, ist in erklärungsmächtige Theorien eingebettet, und bietet u.U. Ansatzpunkte für Therapien. Denn dass im Gehirn etwas nicht in Ordnung ist, heißt ja mitnichten, dass man es nicht heilen könnte.
- Schizophrenie ist eine schwere, lebensbedrohliche Erkrankung, und sie in einer „Anfälligkeit“ aufzulösen, die jeder hat, empfinde auch ich als fahrlässige Verharmlosung. Erstens kann schon die Anfälligkeit sehr verschieden ausgeprägt sein. Und zweitens ist die Anfälligkeit ja etwas anderes als der tatsächliche Ausbruch der Krankheit aufgrund eines „second hit“, also eines traumatischen Ereignisses. Van Os‘ Tipps für den Schizophrenen lesen sich für mich völlig weltfremd. Es fängt schon damit an, dass ein Merkmal der Schizophrenie die mangelnde Krankheitseinsicht ist. Ein paranoider Schizophrener hält sich für gesund, also wird er keine Beratung und Hilfe suchen. Und „passen Sie auf, dass Sie in keine Depression verfallen“ – bitte? Depression ist doch keine Laune, in die man verfällt, wenn man nicht aufpasst!
- Wenn ich van Os‘ Aussagen zur Schizophrenie daher mal zur Verdeutlichung ins Beispiel der Adipositas übersetze, läse sich das etwa so: „Fettleibigkeit gibt es eigentlich gar nicht, sondern nur eine Veranlagung zum Dicksein, die wir alle haben. Bei manchen Menschen manifestiert sich die Anfälligkeit. Solchen Menschen sollte man dann raten, zu den Weight Watchers zu gehen. Und sie sollten aufpassen, dass sie nicht zuviel essen.“
Synthese: Bei allen psychischen Erkrankungen (also u.a. Schizophrenie, Depression, Adipositas) ist es für die Betroffenen meines Wissens sehr erleichternd, zu erfahren, dass sie nichts dafür können. Es sind auch biologische Krankheiten, nicht anders als Krebs oder Parkinson. Es sind auch soziale Phänomene, und auch psychische. Alle Ebenen des Organismischen wirken darin zusammen – aber eben auch die biologische. Das sollte man anerkennen, um jedem Betroffenen auf seine individuelle Weise helfen zu können: mit sozialer Einbindung und der Begleitung des psychischen Prozesses, wovon van Os spricht, aber eben auch mit Psychopharmaka, wo sie nötig und hilfreich sind.

Noch ein paar Anmerkungen zum Schluss:
Unter „Möglichkeiten der Vorsorge“ beklagt van Os zunächst, dass die Patienten mit einer leichten Störung überbehandelt seien, um dann zu sagen: „Wir fordern und entwickeln daher eine öffentliche psychische Gesundheitsfürsorge für die leichten Probleme“. Hä?
Einen Absatz später beklagt er zunächst, dass biologische Psychiatrieforschung belohnt werde, und sieht fünf Sätze später ein Problem darin, dass sich die Industrie aus der biologischen Psychiatrieforschung zurückziehe. Wieder: Hä?

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