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  • Leser2015

481 Beiträge seit 19.11.2015

Jede Verfassung ist nur so gut wie deren Exegese

Diesen rezensierten literarischen Kommentar kann man mit einem lachenden und einem weinenden Auge wahrnehmen, denn natürlich wäre eine breite Debatte über die gegenwärtige verfassungsrechtliche Praxis äußerst wünschenswert –, für deren Ausbleiben jene Literaten vielleicht nur das nützliche Feigenblatt darstellen?

Leider ist es mit Verfassungen ähnlich wie beim Völkerrecht: Ganz ohne wäre es noch schlimmer, doch in der Verfassungspraxis bestimmen ausschließlich die politischen Machtverhältnisse die konkrete Exegese des Grundgesetzes im Einzelfall; man kann sich weder auf die Schrift selbst noch auf einen Konsens in der Vergangenheit verlassen, egal wie existenziell das strittige Problem auch sein mag. Schöne Beispiele hierfür sind etwa alle Fragen rund um Krieg und Frieden oder auch um die richtige Bekämpfung von Infektionskrankheiten.

Schon die Behauptung der Autorinnen und Autoren, »Artikel 1 bis 19 seien Abwehrrechte gegen den Staat« (Heitmüller), stellt zwar historisch den langjährigen Konsens korrekt dar, doch wurden zuletzt genau solche zivilen Abwehrrechte als staatliche Schutzplichten neu interpretiert, sodass statt der Zivilgesellschaft künftig staatliche Stellen im Interesse machtloser Bürger deren Abwehrrechte gegen staatsähnlich gedachte, widerständige Bürger durchsetzen werden, wobei diese neuen Schutzpflichten des als fürsorglich empfundenen Staates zwangsläufig jede politische Opposition einhegen müssen, da politischer Widerstand innerhalb einer mehrheitlich zufriedenen Gesellschaft stets eine abstrakte Gefahr oder zumindest Störung darstellt.

Aufgrund dieser neuartigen Interpretation von Grundrechten glauben staatliche Stellen und auch viele staatsnahen Leitmedien, heute jede kritische Meinung oder Demonstration bereits präventiv delegitimieren zu müssen, etwa als Verschwörungsideologie abstrakter Gefährder, statt diese Alltagsauseinandersetzungen, wie verfassungsrechlich eigentlich vorgesehen, der demokratischen Zivilgesellschaft zu überlassen und sich auf die Verfolgung konkreter Straftaten zu beschränken. Und selbst die Menschenwürdegarantie als Kern der Verfassung scheint im Zuge der Pandemiebekämpfung eine Aushöhlung erfahren zu haben, denn von der sogenannten Objektformel (https://de.wikipedia.org/wiki/Objektformel), auf die sich das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit gern bezog, war plötzlich keine Rede mehr.

In der Angriffskriegsfrage, eigentlich in Artikel 26 des Grundgesetzes (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_26.html) unmissverständlich geregelt, setzte schon kurz nach der Wiedervereinigung eine Neubewertung ein (https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/188072/vor-25-jahren-bundesverfassungsgericht-billigt-auslandseinsaetze/ https://www.bpb.de/medien/204763/Verteidigungspolitik_Auslandseinsaetze_Grafik_Text_neu.pdf), wobei das Bundesverfassungsgericht in Artikel 24 Absatz 2 des Grundgesetzes (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_24.html) plötzlich eine ausdrückliche Ermächtigung der Verfassung erblickte, aufgrund der dortigen Einwilligung in die Beschränkung der deutschen Hoheitsrechte in einem System kollektiver Sicherheit, wie etwa der NATO, supranational organisierte friedenssichernde Angriffskriege führen zu müssen (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/1994/bvg94-029.html), gewissermaßen als Opfer der Verfassung.

Und für Kriegsvölkerrechtsliebhaber sei noch auf eine ungewöhnlich protektive Wirkung des Grundgesetzes für deutsche Oberbefehlshabende in internationalen bewaffneten Konflikten (https://www.bundestag.de/resource/blob/662192/2a584fe2521828f16b02690e08129a76/WD-2-098-19-pdf-data.pdf) verwiesen, die Zivilisten(!) seien, weshalb deren Neutralisierung durch militärische Gegner nach deutscher Rechtsauffassung somit ein Kriegsverbrechen darstellte.

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