"Eigentlich hatte Präsident Putin nie einen Zweifel daran gelassen, dass für Russland der Nato-Beitritt Kiews eine rote Linie überschreiten würde.
Angesichts der Auseinandersetzungen im Donbass hielt man offensichtlich in Moskau diesen Punkt im Februar 2022 für gekommen."
Das ist kühne Spekulation. Tatsächlich hatten die Auseinandersezuingen im Donbass seit Selensky drastisch abgenommen. Die OSCE registrierte nur noch gelegentlich kleine Ballereien, die zivilen Opfer bewegten sich pro Jahr im niedrigen zweistelligen Bereich.
Im Februar 2022 war dieser Punkt sicher nicht gekommen, denn der Aufmarsch hatte sich Monate vorher vollzogen.
Ein Beitritt der Ukraine zur Nato stand in dieser Zeit nicht auf der Tagesordnung. Die Einladung zum Beitritt war ja ein Jahrzehnt zuvor schon einmal von Deutschland und Frankreich verhindert worden. Da hatte sich nichts geändert.
Selbst wenn es zu Beitrittsverhandlungen gekommen wäre: Ein Beitritt wäre in den nächsten zehn Jahren, wenn nicht länger, völlig unrealistisch gewesen. Man sieht das ja an dem Terz, den die Türkei mit Finnland und besonders Schweden aufführt. Es gab keine irgendwie akute "Gefahr" eines Beitritts für Russland.
Mit der Krim 2014 hat Russland allerdings viele Türen zugeschlagen. Trotzdem denke ich, dass eine Neutralität der Ukraine unter der Voraussetzung des russischen Abzugs aus dem Donbass verhandelbar gewesen wäre. (Die Krim hätte man dann auf die lange Bank geschoben.)
Dann aber kamen russische Forderungen nach dem Abzug der Nato aus Osteuropa und der Zusicherung, keine weiteren Länder mehr aufzunehmen. Jeder wusste, dass diese Forderungen völlig illusorisch waren und auch so gedacht waren. Zu diesem Zeitpunkt musste aber auch klar werden, dass trotz russischer Dementis ein Einmarsch in die Ukraine bevorstand. Die Szenen von Macron und Scholz am langen Tisch sprachen für sich.
Putins Maximalforderungen lassen Europa nunmehr befürchten, dass eben mit der Ukraine nicht Schluss wäre und Putin seine Grenzen immer weiter austestet.
Die Situation in der Ukraine scheint sich derzeit zugunsten Russlands zu wenden. Das ist aber ein kurzfristiger Vorteil. Wenn Europa bzw. der ganze Westen sich ernsthaft bedroht fühlen, wird es zu einem beispiellosen Aufrüstungswettlauf kommen. Und den kann Russland nicht gewinnen. Der hat schon die Sowjetunion wirtschaftlich ruiniert.
Es wäre für beide Seiten enorm wichtig, jetzt auf die Bremsen zu treten.