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  • Umweltfreund82

mehr als 1000 Beiträge seit 01.12.2023

"Weitermachen ist alternativlos" = "Demokratie ist zwecklos"

Das ist leider das, was ich daraus erkennen kann.

Nein, die Bundesregierung des Kanzler Scholz muss nicht zurücktreten und Platz machen für Neuwahlen. Es wurde ja über die 96 deutschen Sitze im Europaparlament abgestimmt, nicht über das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung. Aber es wäre fatal, überhaupt keine Lehren aus dem Debakel ziehen zu wollen.

Die Europawahl ist die einzige Wahl neben der Bundestagswahl, in der ein Stimmungsbild des gesamten Bundes ermittelt werden kann. Bei Landeswahlen besteht ja immer die Möglichkeit, dass die Wähler differenzieren und die heimischen Landesverbände getrennt betrachten von der jeweiligen Bundespartei. Daher ist möglich, dass z.B. in BaWü die nächste Landtagswahl wieder Grün-Schwarz unter Ministerpräsidenten Kretschmann bestätigt wird, obwohl während der Europawahl nahezu alle Landkreise von der CDU gewonnen worden sind. Zudem gibt es nur eine Stimme (Liste) statt Erst- und Zweitstimme (Liste und Kandidat). Die Europawahl gibt sehr genau die Stimmung im Land nach Partei zurück - und entspricht in vielerlei Hinsicht der Sonntagsfrage.

Das Ergebnis ist für die Ampel mit dem Schicksal der Titanic vergleichbar: der Eisberg war lange schon im Voraus sichtbar und wahrhaben wollte niemand, dass das Schiff eben doch nicht unsinkbar konstruiert worden war. Die Sonntagsfrage entspricht dem gesichteten Eisberg, die Europawahl ist dann die Kollision mit demselben. Und gesessen hat's, das muss man sagen. Am schlimmsten abgewatscht wurden die Grünen. Die SPD mag ein historisch schlechtes Ergebnis in einer Europawahl eingefahren haben, wurde aber nicht ansatzweise so abgestraft wie die Grünen. Die zwei Sitze Verlust lassen sich verknusen, die praktische Halbierung der Grünen dagegen nicht. Auch für die FDP scheint die Talfahrt ein Ende zu nehmen, denn sie stabilisiert sich bei 5% - und wäre im Bundestag noch drin, wenn auch nur knapp.

So richtige Analysen zum Wahlergebnis habe ich in keiner einzigen Zeitung (Online-Auftritt) lesen können. Nur die farbliche Darstellung der Sitzverteilung allein genügt nicht. Es fehlt auch der Hinweis, dass, würden sie berücksichtigt, die meisten Sitze an die "Nichtwählerpartei" gegangen wären. Würde man die 96 Sitze nach Wahlberechtigten verteilen und jene Sitze leer lassen, für die niemand abgestimmt hat, sähe die Sachlage nämlich anders aus (ungültige Stimmen berücksichtige ich nicht):

Wahlbeteiligung Deutschland Europawahl 2024: 64,8%

Nichtwähler: 35,2%
CDU: 19,4%
AfD: 10,3%
SPD: 9,0%
Grüne: 7,7%
BSW: 4,0%
FDP: 3,4%
Sonstige: 11%

Stellen wir's mal um in Regierungskoalition und Opposition:

Nichtwähler: 35,2% -> 34 Sitze
CDU+AfD+BSW: 33,7% -> 32 Sitze
Ampel: 20,1% -> 19 Sitze
Sonstige: 11% -> 11 Sitze

Auch in dieser Konstellation bleibt die Nichtwählerpartei größter Block. An zweiter Stelle kommen die nach Stimmverteilung größten drei Oppositionsparteien, die nur knapp hinter den "Nichtwählern" liegen. Wäre dies die Zusammensetzung des Bundestags, haben sowohl die Nichtwähler als auch die Opposition jeweils für sich die Sperrminorität inne: Abstimmungen, die eine Zweidrittelmehrheit verlangen, könnten entweder durch die Nichtwähler oder die Opposition blockiert werden.

Nur jeder fünfte Bundesbürger hat sich in dieser Europawahl zugunsten der Ampelregierung entschieden. Das ist aber keine Mehrheit, nicht einmal mit dem Kunstgriff "größte Minderheit". Die größte Minderheit werden durch die Nichtwähler gestellt, dann folgt bereits die Opposition. Erst an dritter Stelle findet sich die Ampel. Teilen wir die Opposition wieder in ihre Bestandteile auf, hat die CDU die Oppositionsführung inne und liegt nahezu gleichauf mit der Ampel. Die AfD vertritt nur jeden zehnten Bundesbürger und das BSW muss sich erst strukturell und personell etablieren, dann wird sich zeigen, ob wirklich nur einer von 25 Bundesbürgern diese Partei unterstützt - hier sprechen wir also in beiden Fällen von Minderheiten.

Jetzt sei mal eine Frage in den Raum geworfen:

1. wieso lese ich sowas nicht in den offiziellen Analysen? Wird hier davon ausgegangen, der durchschnittliche Rezipient ist nicht schlau genug, eine vernünftige Analyse zu lesen? Oder will man bewusst irgendwas unter den Teppich kehren, etwa, ...

2. dass unsere gewählten Volksvertreter das mit der Demokratie eher als "optionales Detail" betrachten? Vier von fünf Wahlberechtigten haben sich gegen die Ampel entschieden! Selbst unter Missachtung von Nichtwählern und den Sonstigen, die dann anteilig aufgeschlagen werden, kommt die "Ampel" nur auf etwas mehr als ein Drittel Zustimmung.

3. wenn dieses desolate Bild nicht ausreicht, die Regierungskoalition vernünftig einzunorden und man "alternativlos weitermachen" will, obschon die Bevölkerung ganz klar eine Absage an "Weiterso" gegeben hat, dann hat das mit Demokratie alles nichts mehr zu tun. Dann können wir uns die wackelige Simulation von Demokratie auch sparen.

Wenn "weitermachen alternativlos ist", dann ist "Demokratie zwecklos".

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (12.06.2024 10:39).

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