Der Artikel von Putin ist sicher kein wissenschaftlicher Text, wie schon an den fehlenden Quellenangaben zu erkennen ist. Ein wissenschaftlicher Artikel ohne Zitate und Quellen ist -gerade in der Geschichtswissenschaft- nicht denkbar. Geschichtswissenschaft ist ja gerade die Auswertung, Erschließung und Kontextualisierung von Quellen.
Das ist keine Überraschung, denn Putin ist kein Historiker, sondern Politiker, d.h. er ist nicht Beobachter, sondern Akteur. Diese beiden Rollen schließen sich gegenseitig aus. Sein Text ist trotzdem relevant: allerdings nicht als Fachartikel, sondern als Quelle zur Gegenwartsgeschichte Russlands, in der Putin der wichtigste Akteur ist.
Dass Politiker Geschichte interpretieren um ihr Handeln zu rechtfertigen ist normal, es macht sie aber noch lange nicht zu Historikern. Das ist der Grund, warum gerade die Geschichtswissenschaft auf den Versuch politischer Einmischung -und als solche wurde die "Empfehlung" der Russischen Botschaft für den Putin-Text verstanden- so empfindlich reagiert haben.
Man könnte darüber lächeln, wie bemüht der Amateurhistoriker Putin um die Anerkennung der Fachleute buhlt. Nur hat seine eigenwillige und außerhalb der putinschen Machtsphäre von niemandem geteilte Auffassung in Russland quasi Verfassungsrang - dort findet sich der Satz, dass die russische Föderation sich verpflichtet "die Verteidigung der historischen Wahrheit zu gewährleisten". Man ahnt, welche Wahrheit das wohl sein dürfte. Und da klingen die Befürchtungen wegen der Wissenschaftsfreiheit schon deutlich plausibler.