Und dann ist dann noch das beliebte Herausstellen der angeblichen Stalin'schen Fehleinschätzung, aufgrund derer das Land auf den faschistischen Angriff unvorbereitet gewesen sei. Ungesagt, nur implizit unterstellt dabei, die damalige sowjetische Führung sei am Ausmass der Katastrophe irgendwie mitschuldig. Eine typische Opferbeschuldigung, die an Bemerkungen erinnert 'ja wenn die Schlampe nicht so einen kurzen Rock getragen hätte, wär sie nicht vergewaltigt worden'. Aber im politischen Zusammenhang, zumal wenn es sich um Russland handelt, versagt das sonst doch mittlerweile so feine Gerechtigkeitsempfinden.
Eine andere Variante der Umdeutung führt heute die nzz vor, die in einem ausführlichen Artikel die innersowjetische bzw. -russische Instrumentalisierung des schliesslichen Sieges im Grossen vaterländischen Krieg nachzeichnet. An sich sicher nicht falsch oder uninteressant, aber gezielt am Thema vorbei. Es enthebt von der Pflicht, das Grauen, das vom Westen her in die damalige Sowjetunion hineingetragen wurde, auch nur andeutungsweise zu beschreiben oder gar explizit verurteilen zu müssen.
Man mag zur heutigen russischen Staatsführung stehen wie man will. Aber als Westler und insbesondere als Deutsche ist es eine Schande, die historischen Geschehnisse in ihrer gesamten Brutalität nicht klar sichtbar zu machen und dabei selbstverständlich Ross und Reiter zu nennen. Die Reduzierung der Untaten der damaligen deutschen Regierung auf die allerdings schon buchstäblich unfassbare Shoa, die Weigerung, all die anderen von der selben Ideologie gerechtfertigten, wenn auch weiter als deren Machtergreifung zurückreichenden, man denke an deutsche Kolonaialgeschichte, monströsen Taten und darunter insbesondere natürlich den Barbarossa-Feldzug expressis verbis in den Blick zu nehmen, als solche anzuerkennen, ist ein sehr starkes Indiz dafür, dass es weiterhin an wahrer Einsicht mangelt und weiterhin Wiederholungsgefahr herrscht.