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  • morgen Stern

988 Beiträge seit 03.10.2015

Bruchstücke zur Dialektik der Staatsgewalt

Wetzel will sich nicht ernsthaft aus dem Fenster hängen, auch wenn er zumindest dagegen klopft:

Geradezu staatstragend ist der Vorwurf an die Querdenker, die Staatsgewalt völlig zu missachten. Mir ist dieser Schwenk zur (teilweisen) Anerkennung der Staatsgewalt neu! Es ist doch mehr als verrückt, wenn Antifas andere zur Akzeptanz des Staates und seiner Organe auffordert. Gehörte es nicht zu den Essentials antifaschistischer Erfahrung und Praxis, dass man der Staatsgewalt grundsätzlich misstraut, dass man ihr nicht die Einhaltung und Durchsetzung der gesellschaftlichen Ordnung überlässt?

Dass es offenkundige Verbrüderungsszenen zwischen dem Personal der Staatsgewalt und den querdenkenen Horden gibt, könnte diese Reflexion weit schärfer gegen die völlig verrückte Absurdität des in tp-Foren z. B. bis zum Abwinken gepflegten Gestus von "Covid-Regime lässt nicht mehr sagen, was man ja wohl noch sagen können wird." in Stellung bringen.

Die klügeren Antifaschist_innen hatten nicht zuletzt wegen der Matrosen- und Soldatenaufstände zum Endes des ersten Weltkriegs (das mir durch Covid in Bezug auf die spanische Grippe völlig neu zu denken scheint) immer auch klar, dass es keine unmittelbare Identität zwischen Staatszweck und den Identitäten des Staatspersonals gibt. Polizist_in auf dem Boden der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" zu sein z. B., ist ganz alltäglich ein schwieriger und anstrengender Job, in Covid-Zeiten vermutlich wegen der allgemeinen Verwirrung allüberall (also z. B. der von Wetzel ins Auge gefassten Verschiebung, dass Nazis plötzlich gegen den autoritären Staat sind, Antifas aber dafür) noch schwieriger als zuvor, gleichgültig, ob jetzt ein Nazi-Herz, ein liberales oder ein linkssozialdemokratisches in der Brust der Agent_innen des staatlichen Gewaltmonopols schlägt: Der psychische Druck im Kessel eines auf Recht und Ordnung vereidigten Hirns ist mir gänzlich unvorstellbar.

Seidels Beiträge gestern in der Parlamentsdebatte zur "Bundesnotbremse" waren z. B. ein schillernder Ausdruck dieser allgemeinen Verwirrung: Sehnt sie sich doch nach nichts anderem als einem autoritären Staat, tat sie gestern so, als sei ihr diese Autorität in Pandemiezeiten plötzlich ein Skandal. Die autoritäre Form liebt sie, aber der aktuell nicht ausreichend wirtschaftsfreundliche Inhalt geht ihr gegen den Strich - was sind schon hunderttausend Tote gegen ein BIP-Wachstum von 0,7 %? Mir scheint, dass wir uns, wenn wir uns schon mit diesen Themen auseinandersetzen wollen, darauf konzentrieren sollten, warum sich die dialektische Einheit von Form und Inhalt plötzlich im gesamten politischen Spektrum anderen Auflösungen als sonst zuwendet.

Was sich z. B. als Gemeinsamkeit von Nazis, Antifas und Polizist_innen leicht aufzeigen lässt, ist, dass sie im Unterschied zur "liberalen Zivilgesellschaft" allesamt immer klar hatten, dass Gewalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht äußerlich ist, sondern substanzielles Motiv. Mir scheint, dass die Verwirrung wesentlich daran hängt, wie existenzialistisch Covid als Krisenphänomen rationalisiert wird: Querdenkende scheinen nicht daran zu glauben, dass entweder Natur da überhaupt radikal bedrohlich ist oder dass Staat über Natur stehen könnte. Die Gegenseite scheint wohl eher zu Dialektik zu neigen: Staat und Natur sind voneinander nicht so sehr getrennt, wie es das bürgerliche Selbstbewusstsein immer gern gehabt hätte: Staat als Sphäre der gesellschaftlichen Freiheit von und über Natur.

Die Augen der Blinden für den historisch erreichten Stand kritischen Staatsbewusstseins z. B. in https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat oder in Agnolis Überlegungen zur Transformation der Demokratie im Kontext der Notstandsgesetzgebung der späten 1960er oder im Werk Marx' z. B. in seiner Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie zu öffnen, ist zwar sicherlich immer ein ehrenwertes Motiv, bleibt aber doch stumpf in Zeiten, in denen sich ausgerechnet die Autoritärsten zur Kritik der Autorität aufschwingen. Seidel wird demnächst vermutlich noch Adornos Studien zum autoritären Charakter zur Rettung klein- und großbürgerlichen Profits in Pandemiezeiten ins Feld führen - was so neu ja nicht wäre, Fischer bezog sich ja auch auf Adorno, um Jugoslawien zu zerlegen. Jeder Gedanke auf dem Markt der Ideen lässt sich im dialektischen Zusammenhang immer wieder so neu und neu drehen, dass er als Schlüssel für jedwedes Schloss voluntaristischen Willens funktioniert. Mit Hayek z. B. ließe sich gerade ganz gegen den Willen seiner Fans sagen, dass tatsächlich in dieser einzigartigen historischen Situation mal der Nachtwächterstaat radikal den Markt gegen eine Macht der Dunkelheit beschützen muss, die den Markt auf eine Weise in all seinen Poren der ökonomischen Interaktion angreift, dass der Markt ohne Staat hilflos erscheint.

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