Das Wochenende - obgleich zwei Tage lang, doch immer zu kurz - neigte
sich dem Ende und auch wenn ich an dem morgigen Tage wahrscheinlich
meinem Mitarbeiter erneut den Anblick eines verliebten Menschen mit zu
wenig Schlaf bieten würde, blieb ich dennoch bei Sabrina im
Wohnzimmer sitzen und schlürfte genussvoll meinen Lieblingssherry.
Meine Autoschlüssel hatten bereits den Weg in meine
Sakko-Innentasche gefunden - nahm ich doch als verantwortungsbewusster
Mensch stets ein Taxi mit einem übelgelaunten Fahrer eher in Kauf
als einen von mir verursachten Unfall, welchen ich mir genauso wenig
verziehen hätte wie Sabrina. Ich bitte jedoch - um meine
männliche Eitelkeit zu schonen - nicht nachzufragen, welches
Verzeihen mir wichtiger wäre.
Sabrina, die heute - nachdem sie sich entschlossen hatte, weder den
bibeltreuen Menschen, die die Abtreibung als "größten
Massenmord aller Zeiten" anprangerten, noch den sonstigen
Individuen, die sich in jener wunderbaren Erfindung namens Internet
herumtrieben, Plus- oder Minuspunkte zu zu gestehen - reichlich
entspannt aussah und deren elegantes Kleid einem ebenso eleganten
Nachthemd samt passendem Mäntelchen gewichen war, schlürfte
ebenfalls Sherry, natürlich um einiges graziler als ich.
Vielleicht war ich hier aber auch nicht ganz objektiv.
Nun, da die Nacht bereits ihr schwarzes Mäntelchen ausgebreitet
hatte, knipste Sabrina ihre Designer-Lampe an, die mich stets an eine
dieser Zitronenpressen von Alessi erinnerte, und suchte sich den Weg in
die bereits erwähnte wunderbare kleine Erfindung namens Internet.
Ich brauche dem geneigten Leser dieser Zeilen wohl nicht mehr zu
verdeutlichen, wie sehr ich auf Sabrinas wunderbare Finger sah, wie sie
zielsicher die Maus klickte, um in Sekundenschnelle auf die von ihr
bevorzugte Seite mit den wunderbaren und furchtbaren Nachrichten zu
kommen - Telepolis.
Ich ahnte Schreckliches - und nahm mir unauffällig erneut Sherry,
wohl wissend, dass Sabrina mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit wieder
auf eine der Nachrichten klicken würde, welche stets Anlass
für eine der Katastrophen waren, die Sabrina in ihrem sonst so
wunderbaren Leben heimsuchten.
Auch diesmal trog mich meine Ahnung nicht - als gebe es neben dem
Gesetz des Murphy auch das Gesetz der Sabrina.
"Darling" Sabrina deutete auf den Artikel, so dass ich mich -
mein Sherryglas fest umklammernd - zu ihr hinüber lehnte, um mit
ihr jenen wunderbaren kleinen Artikel zu lesen.
"Darling, ist das nicht einfach wunderbar?" Sabrina strahlte
mich aus ihren smaragdgrünen Augen an. "Oh, Darling - sieh es
Dir an - sie wollen jetzt endlich endlich diese furchtbar
geheimnisvollen Gerichtsverhandlungen auch für die interessierten
Menschen außerhalb dieses kleinen furchtbar engen Gerichtssaals
freigeben."
Mir schauderte und ich wartete ab, was Sabrina weiter zu diesem meiner
Meinung nach mehr als zynischem Thema sagen würde. Und jenes
göttergleiche Wesen mit den grünen Augen und den
kastanienfarbenen Haaren enttäuschte mich nicht:
"Darling, ist das nicht ganz ganz wunderbar?"
Sie machte eine begeisterte Geste und ich brachte vorsichtshalber mein
Sherryglas ein wenig in Sicherheit.
"Darling - so werden doch alle diese furchtbaren furchtbaren
Skandale endlich nicht mehr möglich. Stell Dir vor, Darling - all
diese so geheimnisvollen kleinen Verhandlungen kann jeder Mensch
verfolgen. Es wäre alles so offen für alle Menschen, dass all
diese furchtbaren Täter sich nicht mehr herausreden könnten.
Denn es würden ja ganz ganz viele wunderbare Menschen zusehen und
jedes kleine Wort mithören."
Ich schwieg - vor meinen Augen tanzten Erinnerungen an den
Geschichtsunterricht: Menschen, die begierig auf den Urteilsspruch
lauschten.
Doch Sabrina hatte natürlich auch Recht - wenn es für jeden
möglich wäre, Gerichtsverhandlungen zu verfolgen, wäre
eine gewisse Sicherheit gegeben.
Doch wäre sie wirklich gegeben? Wie weit sollte man gehen, um
wirklich Sicherheit vor den furchtbaren Mauscheleien zu erlangen?
Kameras auf den Toiletten, Richtmikrophone in den Krawatten der
Anwälte und Angeklagten? Mir erschien dieses Szenario mehr und
mehr wie eine Szene aus einem schlechten Film, doch Sabrina schien
anderer Meinung.
"Darling, es wäre doch ganz ganz wunderbar! Es gäbe
keine dieser furchtbar ungerechten Fehlurteile mehr! Keine dieser
kleinen ungerechten Absprachen, Darling. Alles wäre für jeden
von uns nachvollziehbar. Oh, Darling - was für eine wundervolle
Idee."
Ich seufte und sah unauffällig in Sabrinas Ausschnitt - es gab
Momente, da outete ich mich immer wieder als typischer machohafter
Mann. In diesem Augenblick, in dem ich Sabrinas zart gerötete Haut
sah, hätte sie mir sonst etwas erzählen können - ich
hätte genickt.
"Oh, Darling" Sabrina war noch immer voller Begeisterung
für die Idee der öffentlich übertragenen Verhandlungen.
Euphorisch zählte sie die weiteren Vorteile auf:
"Darling, wir wären nicht mehr auf diese wunderbaren Reporter
angewiesen, wir würden alles selbst sehen können. Niemand
könnte etwas vor uns vertuschen, Darling."
Nun, ich bezweifelte, dass nicht geschickte Kameraführung auch zu
einer Vertuschung führen konnte, dennoch schwieg ich weiter und
widmete mich meinem Sherry, welcher mir etwas sicherer erschien als
Sabrinas offenherziger Ausschnitt.
Man durfte immerhin nicht vergessen, dass ich eine recht leger
geschnittene Tuchhose trug.
"Oh, Darling - wir würden diese furchtbaren Menschen selbst
sehen können, wir könnten sie wieder erkennen, falls sie
ausbrechen. Darlin, wäre das nicht wunderbar?"
Ich nahm einen Kräcker, den mir Sabrina offeriert hatte, und
weitere Kommentare rauschten an meinem Ohr vorbei:
"...viel besser informiert, Darling...unabhängig...aus erster
Hand...Informationsfreiheit...Recht auf Information...Manipulation,
Darling, wäre kaum mehr möglich...wie wunderbar..."
Ich begann, mich langsam - trotz aller Bedenken für die
Möglichkeit der Übertragung zu erwärmen.
Sicher, Urteile wie das gegen Torben waren auch für die
Allgemeinheit wichtig. Warum also keine Live-Schaltung?
Doch was war mit den Angehörigen bei Mordanklagen?
Was war mit den Opfern von Vergewaltigungen?
"...Darling, wir hätten doch alle Mitgefühl mit den
Opfern...würden sie unterstützen können..."
hörte ich Sabrina sagen und ich war fast überzeugt als mir
auffiel, dass Sabrina plötzlich gestoppt hatte.
Irritiert aß ich den Rest meines Kräckers und wandte mich
Sabrina zu. Sie saß da - ihre grünen Augen verschreckt
aufgerissen und ihre wunderbaren vollen Lippen zitterten.
"Darling" sagte sie leise. "Du erinnerst Dich an
Phoebe?"
Natürlich erinnerte ich mich an Sabrinas Schwester, welche
Sabrinas Hang zur Katastrophobia, wie ich es insgeheim nannte, geerbt
zu haben schien.
"Darling, Du weisst doch, dass Phoebe...meine kleine wunderbare
Schwester vergessen hat, dieses kleine Fleckchen Gehweg von diesem
furchtbaren kalten Schnee zu befreien?"
Die fehlende Befreiung des kleinen Fleckchens Gehweg hatte leider
prompt zum Ausrutschen einer jungen Frau geführt, welche
glücklicherweise lediglich ein paar blaue Flecken davon getragen
hatte.
"Darling...Du weisst doch, dass meine kleine Schwester nun vor
Gericht muss, weil dieses furchtbare furchtbare Versehen ja
fahrlässige Körperverletzung genannt wird."
Ich nickte und mir wurde langsam klar, was Sabrina - eben noch
völlig begeistert ob der Idee, alle Verhandlungen vor Gericht der
Öffentlichkeit zugänglich zu machen - so verstört hatte.
"Darling, wenn sie jetzt vor eines dieser furchtbaren kleinen
Gerichte muss...Daddy würde sterben, wenn er ihr Gesicht im
Fernsehen sähe..."
Sabrina sah mich hilfesuchen an.
"Darling" sagte sie und seufzte. "Wenn sie wirklich
diese furchtbare furchtbare Entscheidung treffen - wird dann jeder, der
den Fernseher einschaltet, Phoebe sehen? Wie furchtbar für Daddy
und für Phoebe...Wem würde das eigentlich eine Information
bieten, Darling?"