Ansicht umschalten
Avatar von auf_der_hut
  • auf_der_hut

mehr als 1000 Beiträge seit 07.05.2008

Re: Tyrannei der Mehrheit

Vielleicht mal die Empörungsfanfare im Schrank lassen und sich erstmal informieren.

Die "Tyrannei der Mehrheit" ist ein von Alexis de Tocqueville geprägter politologischer Begriff, der schon aus dem 19. Jahrhundert stammt und eine Gesellschaftsform beschreibt, die auch als "sanfte Tyrannei" bezeichnet wird.

"Wenn ein Mann oder eine Partei in den Vereinigten Staaten Unrecht erleidet, an wen sollen sie sich wenden? An die öffentliche Meinung? Sie bildet die Mehrheit. An den Gesetzgeber? Er vertritt die Mehrheit und gehorcht ihr blind. An die Exekutive? Sie wird von der Mehrheit ernannt und dient als passives Instrument. An die Strafverfolgung? Die öffentliche Gewalt ist nichts anderes als die bewaffnete Mehrheit. An die Gerichte? Die Jurisdiktion ist mehrheitlich mit dem Recht ausgestattet, Urteile zu fällen: Die Richter selbst werden in bestimmten Staaten von der Mehrheit gewählt. Wie ungerecht oder unvernünftig die Maßnahme auch sein mag, sie müssen sich ihr daher unterwerfen."

Der Begriff beschreibt also etwas, womit sich viele seit Corona durchaus verbinden können. Es ist ein Begriff für die Gefahr in eine Scheindemokratie abzurutschen, wo die Minderheit nicht mehr beteiligt oder gehört wird. Und 77% der slowakischen Wähler haben Fico NICHT gewählt.

Züge einer solchen Monopolisierung der Macht durch die Mehrheit zeigen sich z.B. in Ungarn, Polen und Israel. Dort beschneiden die mit Mehrheit gewählten Rechtsparteien die Unabhängigkeit der staatlichen Institutionen (z.B. der Justiz) und schränken die Rechte der Opposition und der Presse immer weiter ein.

Der KAS-Artikel von Grigorij Mesežnikov, aus dem das Zitat stammt, ist von 2011 und bezieht sich auf die erste Regierung Fico von 2006-2010:

"In einer Ära der „Tyrannei der Mehrheit‟ hatte die Koalition aus Smer-SD, SNS und ĽS-HZDS die Oppositionsparteien im Parlament offen marginalisiert und deren Abgeordnete zu bloßen politischen Statisten gemacht, die Kontrollfunktion des Parlaments geschwächt und die Qualität der Gesetzgebung negativ beeinflusst"

Es hat also weder zeitlich noch inhaltlich auch nur das geringste mit der Haltung der Slowakei zum Ukrainekrieg zu tun. Niemand hat das Recht des slowakischen Volkes bestritten, sich in einer Wahl für eine Partei zu entscheiden, die sich aus der Unterstützung für die Ukraine zurückzieht. Nur kann die Slowakei diese Politik nicht durch Blockade der ganzen EU aufzwingen. Ich bezweifle aber, dass das ein so großes Problem wird: Die EU wird es wie Ungarn handhaben, die beteiligen sich halt nicht und bei den Sanktionen erkauft man sich ihre Zustimmung mit großzügigen Ausnahmeregelungen.

In dem zitierten Noack-Artikel konnte man lesen, wie kurvenreich die Entwicklung von Ficos SMER war und dass sie heute mit der Partei von 2010 nur noch wenig zu tun hat. Im deutschen Spektrum käme wohl Sarah Wagenknechts potenzielle neue Linkspartei der SMER am nächsten.

https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=de5fe9e0-b300-3d46-a28f-9e5bccbc7378&groupId=252038

https://de.wikipedia.org/wiki/Sanfte_Tyrannei

Bewerten
- +
Ansicht umschalten