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  • Oglala

mehr als 1000 Beiträge seit 25.01.2006

Ausführliche Antwort

Hi,

danke der sachlichen Nachfrage. Ich war ziemlich skeptisch, ob
überhaupt jemand diesen langen Text liest…

Die Formulierung
> c) alle haben alles
ist etwas grob, trifft den Kern des Konzepts aber wirklich gut. Fast
schade, dass ich nicht drauf gekommen bin..;)

Und nun etwas genauer:

Ich schließe mich vorab der Antwort von huronenliebchen an:
Die Existenz eines Marktes respektive von Handel ist zuerst einmal
von der Form der Unternehmungen unabhängig. Das bedeutet, es gibt
einen Markt, es gibt Anbieter, es gibt Abnehmer und es gibt einen
Preisfindungsprozess. All dies hat erst einmal nichts mit
Kapitalismus zu tun, zumindest ist dieser dafür nicht
notwendigerweise erforderlich. Das bedeutet auch, dass es
Spezialisierung gab und gibt – um bei dem von mir zitierten Beispiel
zu bleiben: Die den Büffel jagenden Stämme der Prärie haben durchaus
Handel mit sesshaften Stämmen getrieben, die auf Ackerbau
spezialisiert waren. Der Zwang zum ewigen Wachstum fällt allerdings
in der Tat weg, was aber nicht notwendigerweise Innovationsmangel
bedeutet.

Das eigentliche intellektuelle Problem besteht darin, bei dem
„Konzept Tribalismus“ oder der neueren Variante Kommunitarismus eben
nicht gleich an Vernichtung der Technologie und Rückkehr in die
Steinzeit zu denken. Versuchen wir es mal:

>Wie soll die Produktivität in einem lockeren Stammeszusammenschluss
gewährleistet werden? Wer entscheidet, was produziert wird und was
nicht?

Gute Frage. Zuerst einmal ein ganz kurzes Statement über die
Organisation der Lakota: Lakota bedeutet soviel wie „Verbündete“ und
umfasste sieben „Stämme“. Diese wiederum zogen in kleineren
Organisationsverbünden, den „bands“, über die Prärien. Die
Zugehörigkeit von Personen/Familien/Clans konnte dabei durchaus
zwischen den verschiedenen „bands“ wechseln, je nach dem, wie man
sich mit den anderen verstand und wie groß die Übereinstimmungen
waren. Auch der jeweilige Häuptling (der allerdings, außer seiner
Überzeugungskraft, keine wirkliche Macht hatte) spielte dabei eine
Rolle.

Entscheidend ist hier der Unterschied von Gesellschaft zu
Gemeinschaft: Diese „band“ ist eine Gemeinschaft und, modern
ausgedrückt, die Sozial-, Renten- und Krankenversicherung ihrer
Mitglieder inklusive Schule und Kindergarten. Ohne Zugehörigkeit zu
der Gemeinschaft keine Sicherheit, Höchststrafe daher Verbannung. Von
dem guten Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, gar nicht zu
sprechen.

Ebenso ist der Stammeszusammenschluss gar nicht so locker, wie man
glauben möchte. Es handelt sich um eine Art Rückversicherung, und die
kündigt man nicht so ohne weiteres, wenn man nicht nach dem nächsten
Blizzard mit runtergelassenen Hosen alleine dastehen will (und das
ist *echt* peinlich).

Einige Gründe sprechen für dieses Konzept (es gibt noch mehr):

-Es gibt keine großen anonymen Kassen, in die man einzahlt oder aus
denen man etwas bekommt: Das Geben und Nehmen ist mit Gesichtern,
also mit Menschen verbunden. Das wiederum führt zu automatischen
Kontrollmechanismen, was die Verteilung der erwirtschafteten Güter
betrifft (der Griff in die Kasse fällt auf).
-Obwohl es egalitäre Gesellschaften sind existieren Rang und Prestige
(was die Hippies nie kapiert haben und weshalb sie nie Stämme gründen
konnten). Die Kernfrage lautet: Wie definiert sich Prestige? Dies ist
eine reine Frage der Kultur: Im angesprochenen Fall ist das Ansehen
proportional zur für die Allgemeinheit erbrachten Leistung, zur
Großzügigkeit. Und Menschen wollen nun einmal respektiert und geliebt
werden. So wird sogar Egoismus zu Altruismus.
-Die „übergeordnete“ Organisation (eben die Lakota an sich) und die
damit eingehende Verpflichtung der „bands“ und Stämme, sich im
Notfall gegenseitig zu unterstützen, führt wegen der Autonomie der
Einzelgruppen nicht zur Bildung einer herrschenden Kaste.
-In einer solchen Gemeinschaft haben die in einem rein
marktwirtschaftlich organisierten System unwirtschaftlichen Elemente
wie Alte und Kinder durchaus ihre geachtete Position und
Existenzberechtigung. Das Problem nicht vorhandener Kinderbetreuung
und unbezahlbar werdender Altersheime existiert schlichtweg nicht.

Ganz entscheidend aber ist bei alledem, und jetzt komme ich zu deiner
Frage, die Existenz von Gemeineigentum (in England die commons, bei
den Germanen die Allmende): Ein Stamm funktioniert nicht ohne
wirtschaftliche Basis. Ein Stammesmitglied, das sich emotional wie
rational dem Weiterbestehen seiner Existenzgrundlage verbunden sieht,
wird den Teufel tun und diese gemeinsame Grundlage beschädigen. Zumal
die anderen ja auch ein wachsames Auge darauf haben. Das erste Gebot
im Katechismus der Neoliberalen, dass nur Privateigentum schonend
behandelt, dauerhaft gepflegt und optimal genutzt wird, ist
historisch erwiesenermaßen völliger Blödsinn.

Gemeineigentum ist dabei immer das, was zur Produktion elementar
notweniger Güter unbedingt erforderlich ist. Das bedeutet auch:
Lokale Wirtschaftskreisläufe implementieren, um soweit wie möglich
unabhängig von Schwankungen der Marktpreise zu sein. Nie wäre ein
Stamm auf die Idee gekommen, ausschließlich „auf Perlenarbeiten zu
machen“: Das Risiko, auf den Dingern sitzen zu bleiben und zu
verhungern ist einfach zu groß. Und: Man wird erpressbar. Frag mal
die Kaffeebauern.

Genau das war das Problem mit den russischen Bauern nach der
Revolution: Zum einen fehlten die Produktionsanreize, zum anderen
dringend notwendige Dienstleistungen. Dieses Problem lässt sich bei
einer spezialisierten Wirtschaft nur durch die Existenz genügend
vieler anderer Anbieter lösen oder, und das wurde damals auch getan,
durch das Sicherstellen der Produktion durch weitgehende Autarkie des
Betriebs. Vollständig lösbar ist dieses Problem jedoch in keinem
System.

Und wer entscheidet nun, was produziert wird? Ganz einfach: Die
Gruppierungen, die etwas produzieren wollen. Immer daran denken: Es
herrscht Freiheit, und wenn jemand meint, die Produktion von
rauchzeichengebenden  Mobiltelefonen sei die Zukunft – bitte, nur
überzeugen muss er die anderen schon selber. Bei Entscheidungen, die
von elementarer Bedeutung für das Gemeinwesen sind muss allerdings
die Vollversammlung entscheiden. Ob es was wird? Das entscheidet, wie
erwähnt, der Markt.

Und wie kann das alles mit modernen Strukturen verbunden werden? Zum
Beispiel spricht erst einmal nichts dagegen, als „Söldner“ für ein
normales, kapitalistisch organisiertes Unternehmen zu arbeiten und
trotzdem ein Stammesmitglied zu sein (und zu bleiben). Ebenso ist es
für ein Unternehmen eigentlich egal, wem es gehört – die „tribally
owned companies“ funktionieren durchaus. Und Unternehmen auf
Stammesland sind auch kein Problem – nur: Es ist und bleibt
Stammesgebiet, kann also verpachtet werden, ist aber unverkäuflich.
Es existiert also durchaus Privateigentum und in der Folge auch
Kapital, ist aber eingeschränkt.

Im Archiv von Telepolis existiert ein Artikel „bildet banden“, der,
wenn auch aus einem etwas anderen Kontext heraus, eine ähnliche
Sichtweise darstellt.

-
Ich hoffe, das hilft ein wenig weiter. Um auf deine erste Frage
einzugehen: Ja, ich habe es schon länger weitergedacht. Und nicht nur
ich (wenn das Konzept auch, sagen wir mal, nicht gerade bekannt ist).
Zu Ende gedacht ist es aber noch nicht, insbesondere bei der Synthese
mit der real existierenden Welt hakt es noch etwas. Vielleicht fällt
ja jemand noch was konstruktives ein.

„Diese Welt ist zu kostbar, um sie den Politikern zu überlassen“

Toksa
Oglala


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