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  • Oglala

mehr als 1000 Beiträge seit 25.01.2006

Neofeudalismus die dritte (lang)

<ironie>
Beginnen wir mit einem Zitat aus Wikipedia (Frondienst):
>> ... Frondienste waren eine Gegenleistung des Bauern für den
Schutz, das Land (speziell Ackerland) und die Jurisdiktion des
Grundherren. Sie umfassten eine sehr breite Palette der
verschiedensten Tätigkeiten für eine festgelegte Zahl von Tagen pro
Jahr. Normalerweise leisteten die Bauern sogenannte Hand- und
Spanndienste. Handdienste bestanden beispielsweise darin, dass die
Bauern auf den Feldern des Grundherrn Unkraut jäten mussten. ...<<

Warum fallen mir bei diesem Zitat eigentlich immer die Worte
Arbeitslose und Spargelstechen ein? Muss wohl an den Medienberichten
über dieses politisch und volkswirtschaftlich enorm wichtige Ereignis
liegen...
</ironie>

Aber nun etwas ernster:

Es gab schon an der Theorie des Neoliberalismus die Kritik am
übertriebenen Individualismus, der unweigerlich zu einem Zerfall (und
damit Untergang) der Gesellschaft führen müsse: Durch das reine
Partizipieren an beliebig wechselnden Interessensgruppen ohne damit
verbundene, dauerhafte Verpflichtungen kann eine Daseinsvorsorge nur
noch durch eine aufgeblähte, teure (Umverteilungs-)Bürokratie
gewährleistet werden. Die nicht dauerhaft finanzierbar ist, weil sich
alle möglichst vor der Finanzierung drücken und das System zu
ineffizient ist.

Und genau an diesem Punkt sind auch wir jetzt angekommen. Stellt sich
die Frage, wie es denn weitergehen soll. Hier die drei zugegeben
extremsten Richtungen:

a) Anarchokapitalismus
b) Realsozialismus
c) Kommunitarismus / Neotribalismus

Ganz kurz und unvollständig einige Erläuterungen, da ich im folgenden
nur einen Ausschnitt betrachten möchte:

a) Der Anarchokapitalismus betrachtet Privateigentum als das einzig
wichtige und ist konsequent für die Privatisierung von allem. Auch
der Sicherheit (wobei darüber nicht gerade Eingkeit herrscht).
Demzufolge betrachtet zumindest der Vordenker Hoppe Demokratie als
einen Abstieg gegenüber dem Feudalismus: Da Land und Leute ja
Eigentum des Herren waren, wird mit ihnen sorgfältiger umgegangen als
in einem nicht privatisierten System.
b) Die Diktatur des Proletariats. Wenn auch nur in der Theorie.
Nennen wir es einfach einmal Diktatur der Bürokratie, das passt
besser. Entscheidend für die folgenden Betrachtungen: Die
tatsächliche Verfügungsgewalt über Land und Produktionsmittel werden
bürokratischen Organisationen übertragen.
c) Eine Art Neugründung der Stämme, die weitestgehend autonom sind
und eigene wirtschaftliche Grundlagen haben. Menschen sind hier in
Gemeinschaften eingebettet, die miteinander die Gesellschaft bilden.
Die Verfügungsgewalt über Land und Produktionsmittel liegt dabei bei
den Gemeinschaften (Gemeineigentum).

Vine Deloria hat einmal die provokante These aufgestellt, die
Gesellschaft müsse sich irgendwann für eine Richtung entscheiden:
Zurück zur Burg - oder zurück zum Tipi. Da er "Burg" als Synonym für
einseitige Abhängigkeit und Unfreiheit verwendet folgt daraus:
a) und b) stehen für Burg
c) steht für Tipi

Warum?
a) Paradoxerweise führt der extreme (Wirtschafts)Liberalismus
spätestens in Form des Anarchokapitalismus zu einer neuen Form des
Feudalismus: Der "neue Leibeigene", der faktisch über kein
nennenswertes Vermögen verfügt, kann daher auch keines aufbauen
(Stichwort Verzinsung) und ist seinem "Herren" praktisch wehrlos
ausgeliefert. Das ihm zwar das Eigentum am eigenen Körper bleibt und
er sich zumindest theoretisch frei bewegen kann ist ein Unterschied
zum Feudalismus - aber nur auf dem Papier von Bedeutung. Ergebnis:
(Geld)Adel und Neofeudalismus (Burg).
b) Der Realsozialismus ist unfrei und wegen seiner Planwirtschaft
nicht dauerhaft überlebensfähig. Vor allem: Auch hier gibt es keine
Freiheit, keine Möglichkeit gemeinsamer Entscheidungen der Bürger
sondern einen (Polit)Adel, der entscheidet ohne sich rechtfertigen zu
müssen. Wieder Burg.
c) Das ganze ähnelt organisatorisch und gesellschaftlich etwas dem
Bund der Irokesen respektive den sieben Ratsfeuern der Lakota. Tipi
macht also Sinn (wenn auch nur bei den Lakota).

Was das alles mit den Arbeitsmarktreformen zu tun hat? Ganz einfach,
sie sind auch nur ein Ausdruck der allgemeinen Entwicklung:
1) Die zunehmende Entkoppelung von Eigentum einerseits und
gesellschaftlicher Verantwortung andererseits lässt die vermögenden
Privathaushalte reicher werden, während der Staat (und damit das
Gemeinwesen) verarmt.
2) Daher zieht sich der Staat zunehmend aus der Daseinsvorsorge
zurück (Stichwort reale Kürzungen trotz gegenteiliger Beteuerungen).
3) Die immer weiter gehenden Verpflichtungen, wirklich jede noch so
schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen verstärken die Tendenz der
Lohnsenkung und verschärfen dadurch zusätzlich das Auseinanderdriften
der Gesellschaft in Arm und Reich.
4) Der Staat verliert zunehmend seine Integrationsfähigkeit: Immer
mehr Menschen fallen praktisch völlig aus dem gesellschaftlichen
Leben heraus. Noch schlimmer: Bei ganzen, nach wirtschaflichen
Kriterien ausgesuchten, Bevölkerungsgruppen wird schon der Versuch
einer nachhaltigen Integration zunehmend unterlassen. (Und dann
wundert man sich über Parallelgesellschaften...)

Diese Entwicklungen, zusammen mit der immer schneller werdenen
Privatisierung auch der letzten Gemeineigentümer lassen, auch wenn es
übertrieben scheint, eine Neuauflage des Feudalismus befürchten. Auch
damals wurden die Allmende "privatisiert", wenn auch in Form von
Lehen.

Wohin also? Was diesem Land wirklich fehlt ist Einigkeit jenseits von
Fußball; gemeinsame Ziele, Wertvorstellungen und die Wiedereinführung
von Verantwortung und Gemeinsinn. Dazu bedarf es einer breiten,
sorgfältig geführten und nicht durch Lobbyisten gesteuerten Debatte
über Zielvorstellungen und die Frage, wie wir in Zukunft leben
wollen: Als Herren und Sklaven, als Lehnsherren und Leibeigene, als
einsame und bindungslose Einzelkämpfer oder vielleicht als Indianer
(zugegeben etwas salopp ausgedrückt).

Seit Jahren reden leider fast nur Ökonomen über die Zukunft der
Gesellschaft, und deren überwiegende Meinung kennen wir zu genüge.
Sollen sie endlich einmal schweigen. Ihre Aufgabe besteht darin,
wirtschaftliche Zusammenhänge zu erforschen und zu optimieren. Sie
besteht nicht darin, Gesellschaftsstrukturen durch die Hintertür zu
verändern oder gar einseitig Vorgaben zu machen (Stichwort "there is
no alternative").

Es gibt immer eine Alternative. Lasst die große Versammlung beginnen.
Oyate Wica´Ni Ktelo (möge das Volk leben).
Hau, ich habe gesprochen.

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