Fände das Zitat von Robespierre also konsequente Anwendung, so stünde kein Kaiser, König, Papst, Präsident oder Kanzler über dem Volk, sondern wäre dessen persönlicher Diener und hätte jene Aufgaben zu erledigt, die ihm durch eben dieses Volk aufgetragen werden. Das Volk, und damit können in der modernen Gesellschaft nur alle Menschen gemeint sein, die in einem Staatsgebilde leben, wäre der alleinige Herrscher.
Folgerichtig würden den Parlamentariern keine Petitionen angereicht, und es würde auch nicht darum ersucht, etwas zu tun, sofern es demjenigen, der gerade die Krone vom Volk „temporär geliehen“ bekommen hat, gefällt, sondern es würden Anweisungen von der Bevölkerung erfolgen, was zu tun ist.
Doch grau ist leider alle Theorie. Robespierres Verständnis von Gleichheit bezog sich lediglich auf die Gleichheit vor dem Gesetz und in der Politik.
Hätte der Advokat aus besserem Hause das Gemeinwesen wirklich im Sinn gehabt, wäre Frankreich – und vielleicht ganz Europa – aus den Angeln gehoben worden, nämlich durch eine Änderung der Besitzverhältnisse.
Die Besitzenden, strotzend vor Selbstsicherheit und ausgestattet mit dem Wissen, (fast) unantastbar zu sein, verleiben sich in der logischen Folge durch Parteispenden, Lobbyismus und die Auslobung hoch bezahlter Jobs für Politiker eben jene Politik ein, die angeblich das Volk vertritt.
Dabei werden die Gesetze so verbogen, wie es zur Sicherung und Vermehrung des Reichtums der Reichen nötig ist. Jede Maßnahme, die offensichtlich der ungenierten Reichtumsvermehrung dient, wird als alternativlose Notwendigkeit dargestellt und jeder Sozialpakt, in einer Gemeinschaft der Gleichen eine natürliche Selbstverständlichkeit, zur unglaublichen Großzügigkeit verklärt.
Diese Mechanismen begünstigen zwingend soziale Ungleichheit und führen zum Zerfall der Gesellschaft. Wie in allen Epochen stehen die wenigen Reichen, die in der Gegenwart durch ihren politischen Hebel die Systeme lenken, die ihren Reichtum beschützen, gegen die armen Menschen, die sich gegen die Zustände erheben. Darunter mischen sich in Frankreich nun jene, für die bisher noch genügend Krümel vom Teller gefallen sind, die aber merken, dass es auch ihnen an den Kragen geht.
Wird nach der Motivation der Gelbwesten gefragt, die sich fast genau 230 Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution anschicken, die Verhältnisse in Frankreich erneut umzukrempeln, sie mindestens aber infrage zu stellen, kann es genau diese Überlegung sein, die wie ein unsichtbares Band die Menschen unabhängig von ihrer politischen Einstellung miteinander verbindet und sie zur revolutionären Aktion treibt.
Es bleibt kaum eine andere Interpretation übrig, wenn man sich den Einleitungssatz des Forderungskatalogs nochmals vor Augen hält, unabhängig davon, wer ihn verfasst haben mag:
Abgeordnete Frankreichs, hiermit überbringen wir Ihnen die Anweisungen des Volkes, damit Sie diese in Gesetze fassen
Das Gelingen hängt nicht davon ab, wer Überbringer der Botschaft ist, sondern wie viele Menschen sich den Gelbwesten noch anschließen werden, um die Machtverhältnisse zu verschieben. Sofern dies geschieht, bleibt offen, welches System daraus entspringt: Eine Neuauflage der repräsentativen Demokratie wird es nicht sein.
https://neue-debatte.com/2018/12/08/frankreichs-gelbwesten-und-der-schreiber-des-volkes/