Ich halte sowohl den Titel diese Artikels für irreführend, als auch dessen Inhalt:
Das fragliche Interview findet sich nicht im verlinkten Artikel von Les Surligneurs, dessen Autor die Worte des neuen Innenministers Bruno Retailleau ebenfalls nur auf diesen einen Satz reduziert und "interpretiert". Das Interview wurde tatsächlich mit Le Journal du Dimanche geführt, in dem auch der Kontext zu finden ist:
Hintergrund ist der Mord an der 19jährigen Philippine durch einen vorbestraften Marokkaner, der sich illegal in Frankreich aufhielt. Die Tat löste in Frankreich Schrecken und Empörung aus. In der öffentlichen Diskussion wurde die Politik einer als unkontrolliert empfundenen Einwanderung aufgrund ihrer Folgen für die Sicherheit der Bevölkerung in Frage gestellt. Retailleau stellte dazu fest, dass die gegenwärtigen Gesetze die Falschen schützten:
"Wir erreichen einen Punkt des Ungleichgewichts, an dem die Regeln (…) gefährliche Personen mehr schützen als Opfer und die Gesellschaft. Wir können es nicht länger akzeptieren, hinter Rechtsregeln Schutz zu suchen, die unsere Bevölkerung nicht schützen. Wenn die Regeln fehlerhaft sind, müssen sie geändert werden, sei es in Bezug auf vorzeitige Entlassungen, strafrechtliche Reaktion, Strafverkürzungen, Haftdauer, die Ausweisungsbedingungen (…)."
Auf die Feststellung von Le Journal du Dimanche, dass "Linke und Presse" diejenigen, die daran etwas ändern wollen, als Feinde der Demokratie und Populisten karikieren, antwortet Retailleau mit dem zitierten Satz:
"Der Rechtsstaat ist weder immateriell noch heilig. Er ist eine Sammlung von Regeln, eine Hierarchie von Normen, gerichtliche Kontrolle, eine Teilung der Gewalten. Aber die Quelle des Rechtsstaats ist die Demokratie, es ist das souveräne Volk."
Mit anderen Worten, er erklärt nicht "den Rechtsstaat für obsolet", wie der Autor behauptet, schon gar nicht lässt sich die Behauptung des Autors rechtfertigen:
Was er damit meinte, war unmittelbar, dass man sich nicht zu lange mit Verfahrensfragen aufhalten dürfe, wenn der Volkswille weniger Ausländer im Land wolle.
Retailleau stellte die Unveränderbarkeit der Regeln in Frage, die der Rechtsstaat durchsetzt.
Man kann zur bisherigen Einwanderungspolitik Frankreichs stehen, wie man will; ebenso kann man über deren Folgen für das Land seine eigene Meinung bilden. Doch man sollte so ehrlich sein, die Position seiner Gegner wenigstens korrekt und im Kontext wiederzugeben.