Hallo,
Ihre Übersetzung ist falsch, das Originalzitat << L'Etat de droit n'est pas intangible ni sacré >> bedeutet nicht, wie Sie darstellen: << Der Rechtsstaat ist weder immateriell.. >>, was wohl auch keinen Sinn ergeben würde.
Es bedeutet richtig übersetzt: << Der Rechtsstaat ist weder unantastbar noch heilig. >>
Diese zentrale Stelle in Retailleaus Interview mit der, seit vorigem Jahr durch die extreme Rechte kontrollierten, Sonntagszeitung JDD ist im Artikel richtig wiedergegeben.
Zur Überschrift nehme ich keine Stellung, Überschriften macht/wählt die Redaktion und nicht der Autor. Ich enthalte mich einer Positionierung zu redaktionellen Überschriften.
Selbstverständlich enthält der aktuelle Kontext weitere Ereignisse. Aus Platzgründen (ein Artikel darf nicht 10.000 Zeichen überschreiten) lässt sich nicht auf jedes Element eingehen. An anderer Stelle, etwa wenn ich Bücher verfasse - demnächst dürfte wieder eines in Planung gehen - kann ich umfassender auf alle Elemente eingehen. Ein Artikel muss notwendig, da er sonst den Rahmen sprengen würde, bestimmte Elemente herausgreifen.
Die Positionen von Bruno Retailleau ergeben sich nicht aus der Mordaffäre um die getötete Studentin Philippine Le Noir de Carlan. Vielmehr entspricht Retailleaus Politik im Amt exakt dem, was er in der Vergangenheit als damaliger Oppositionspolitiker äußerte. Er änderte definitiv keine seiner Positionen aus etwaiger Empörung über diese Kriminalaffäre.
Tatsächlich verdient auch dieses Verbrechen, angesprochen zu werden; wie erwähnt, in dem Artikel ließ es sich nicht angemessen behandeln, da es den Platz gesprengt hätte. Dessen ungeachtet verdient das Opfer, Philippine Le Noir de Carlan - am heutigen Donnerstag wäre sie zwanzig Jahre alt worden -, jeden Respekt.
Zur Sache selbst, für Alle, die es interessiert:
Am 21. September dieses Jahres war die Leiche der 19jährigen Studentin Philippine Le Noir de Carlan, die zum Opfer eines Sexualverbrechens geworden war, im Pariser Stadtwald Bois de Boulogne erstickt aufgefunden worden. Drei Tage später wurde ihr mutmaßlicher Mörder, der 22jährige marokkanische Staatsbürger Taha Oualidat, in Genf festgenommen und sitzt dort seitdem in Auslieferungshaft.
Schnell wurde bekannt, dass der 2002 in Oujda geborene, 2019 nach Spanien und von dort nach Frankreich gekommene junge Mann bereits mit einer Ausreiseverpflichtung und Abschiebungsdrohung, allgemein unter dem Kürzel OQTF – Obligation de quitter le territoire français – bekannt, belegt worden war. Er war bereits 2021 wegen einer früheren Vergewaltigung zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt worden. Der französische Staat hatte jüngst einen Versuch unternommen, ihn nach Marokko abzuschieben, und ihn dafür aus dem Gefängnis in eine Abschiebehaftanstalt überstellt. Doch die dort Eingesperrten darf die Behörde nur maximal neunzig Tage im Abschiebegewahrsam festhalten. Das marokkanische Konsulat sandte zwar ein Passersatzdokument, das für die erzwungene Ausreise erforderlich ist, doch traf dieses – auch infolge vorheriger behördlicher Schlampereien auf französischer Seite - drei Tage zu spät ein. Anfang September hatte eine zuständige Richterin ihn, unter Anwendung geltender Regeln, aus dem Gewahrsam in eine Art Hausarrest überstellt, ihn also freigelassen, ihm eine obligatorische Wohnadresse zugeteilt und ihn unter polizeiliche Meldeauflagen gestellt. Diese hielt Oualidat nicht ein, worauf eine Haftdrohung steht, doch bevor er wieder festgenommen werden konnte, war er bereits zur Tat geschritten.
Oualidat, der ersten Medienberichten zufolge als intelligent und bildungshungrig gilt, soll unter massiven psychischen Problemen leiden: Seine Mutter starb unerwartet und plötzlich während seiner Kindheit, sein Vater fuhr ihn als Sechzehn- oder Siebzehnjährigen nach Spanien und setzte ihn dort buchstäblich auf der Straße aus.
Hilfsorganisationen für Opfer sexueller Gewalt wie auch Solidaritätsgruppen im Ausländerrecht empören sich nun über mangelnde psychiatrische Beobachtung und Behandlung – notfalls auch durch Einweisung in eine Anstalt - von Sexualstraftätern und die Verletzung von Aufsichtspflichten nach der Haftentlassung, obwohl Taha Oualidat als potenziell gefährlich, aber auch suizidgefährdet eingestuft worden war.
Hingegen tobt nun zeitgleich eine heftige Kampagne, die darauf hinausläuft, Abschiebung hätte das Problem gelöst, wäre der 22jährige doch dann nicht mehr in Frankreich gewesen. Nachdem auch der Chef der Französischen kommunistischen Partei (des PCF), Fabien Roussel, eine solche Position tendenziell unterstützt hatte, brach daraufhin ein Proteststurm in Teilen seiner eigenen Partei aus. Deren Lyoner Parteisektion kritisierte diese Haltung unter anderem mit den Worten ihrer Vorsitzenden Aline Guitard: „Das bedeutet, dazu aufrufen, dass Vergewaltigungen und Morde schlicht anderswo passieren sollen.“ /// https://actu.fr/auvergne-rhone-alpes/lyon_69123/mort-de-philippine-et-oqtf-fabien-roussel-met-le-feu-au-parti-communiste-lyonnais_61658977.html ///
Die Gelegenheit war jedoch perfekt für rechte Bürgerliche und Rechtsextreme aller Couleur, nunmehr die Herkunft, die Nationalität oder den Aufenthaltsstatus von Sexualtätern als den einzig wahren Kern des Problems hinzustellen.
Dieselben Leute vernimmt man in den letzten Wochen jedoch sehr viel weniger, um den auch international Aufsehen erregenden, auf vier Monate angesetzten Vergewaltigungsprozess von Avignon zu kommentieren. Zuvor hatte ein französischer Ehemann, Dominique Pélicot, seine Ehefrau Gisèle Pélicot zehn Jahre lang regelmäßig mit so genannten KO-Tropfen betäubt und von im Internet dafür rekrutierten Dritten vergewaltigen lassen. Vor Gericht stehen deswegen nun 51 Männer – Journalist, Klempner, Feuerwahrmann, Polizist, Arbeitsloser. Einige der Angeklagten stellen sich selbst als verführte Opfer des Ehemanns hin, andere reagieren aggressiv - einer von ihnen schlug bei einer Reportage des Privatfernsehsenders BFM TV dessen Kamera live kaputt. Dazu fanden feministische Demonstrationen, aber auch eine maskulinistische Gegenkampagne statt.
Die sich vordergründig als feministisch ausgebende, bereits in der Vergangenheit mit gezielten Kampagnen allein gegen „ausländische Vergewaltiger“ auffällig gewordene und zu den „Identitären“ zählende Frauengruppe Nemesis startete dazu eine Plakatkampagne und hielt eine Pariser Kundgebung ab, auf der Berichten eines Reporters der Tageszeitung L’Humanité zufolge auch ausgerufen wurde: „Ich hätte gerne, dass man nach Algerien geht, um dort zu vergewaltigen. Das gehört zu deren Gebräuchen.“ /// https://www.humanite.fr/politique/affaire-philippine/meurtre-de-philippine-jaimerais-bien-quon-aille-en-algerie-violer-ce-que-lon-a-entendu-lors-du-rassemblement-du-collectif-identitaire-nemesis
Vor diesem Hintergrund erlaube ich mir:
a/ die geheuchelte Empörung jedenfalls von vielen Figuren auf der Rechten für einen Vorwand, um Rassismus zu verbreiten, zu halten;
b/ gleichzeitig klar und eindeutig für besseren Opferschutz und konsequente Aufklärung bei Sexualverbrechen einzutreten. Ja, und ich persönlich bin im Übrigen für härtere Strafen für Vergewaltiger (egal welcher Nationalität o. Herkunft!), als diese bislang häufig verhängt werden. Jedenfalls sofern keine psychische Erkrankung für ihre Unzurechnungsfähigkeit sorgt. Insbesondere wäre ich bei Vergewaltigern für einen harten Arbeitszwang in der Haft, um ihre Opfer zu entschädigen - entschädigen zu müssen. Wer vergewaltigt und dann in der Haft nicht arbeitet, um das oder die Opfer zu entschädigen, für den soll gelten: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Diese zugegeben scharfe, doch in meinen Augen gerechtfertigte Position grenze ich dezidiert auf die Urheber von Vergewaltigungen (sowie von Straftraten mit Folter) ein und dehne sie auf keinen Fall auf sonstige Straftäter/innen aus, weil es erhebliche qualitative Unterschiede zwischen verschiedenen Delikten gibt.
Herzliche Grüße
bernard schmid
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Auch Gegner richtig und mit Kontext zitieren
Ich halte sowohl den Titel diese Artikels für irreführend, als auch dessen Inhalt:
Das fragliche Interview findet sich nicht im verlinkten Artikel von Les Surligneurs, dessen Autor die Worte des neuen Innenministers Bruno Retailleau ebenfalls nur auf diesen einen Satz reduziert und "interpretiert". Das Interview wurde tatsächlich mit Le Journal du Dimanche geführt, in dem auch der Kontext zu finden ist:
Hintergrund ist der Mord an der 19jährigen Philippine durch einen vorbestraften Marokkaner, der sich illegal in Frankreich aufhielt. Die Tat löste in Frankreich Schrecken und Empörung aus. In der öffentlichen Diskussion wurde die Politik einer als unkontrolliert empfundenen Einwanderung aufgrund ihrer Folgen für die Sicherheit der Bevölkerung in Frage gestellt. Retailleau stellte dazu fest, dass die gegenwärtigen Gesetze die Falschen schützten:
"Wir erreichen einen Punkt des Ungleichgewichts, an dem die Regeln (…) gefährliche Personen mehr schützen als Opfer und die Gesellschaft. Wir können es nicht länger akzeptieren, hinter Rechtsregeln Schutz zu suchen, die unsere Bevölkerung nicht schützen. Wenn die Regeln fehlerhaft sind, müssen sie geändert werden, sei es in Bezug auf vorzeitige Entlassungen, strafrechtliche Reaktion, Strafverkürzungen, Haftdauer, die Ausweisungsbedingungen (…)."
Auf die Feststellung von Le Journal du Dimanche, dass "Linke und Presse" diejenigen, die daran etwas ändern wollen, als Feinde der Demokratie und Populisten karikieren, antwortet Retailleau mit dem zitierten Satz:
"Der Rechtsstaat ist weder immateriell noch heilig. Er ist eine Sammlung von Regeln, eine Hierarchie von Normen, gerichtliche Kontrolle, eine Teilung der Gewalten. Aber die Quelle des Rechtsstaats ist die Demokratie, es ist das souveräne Volk."
Mit anderen Worten, er erklärt nicht "den Rechtsstaat für obsolet", wie der Autor behauptet, schon gar nicht lässt sich die Behauptung des Autors rechtfertigen:
Was er damit meinte, war unmittelbar, dass man sich nicht zu lange mit Verfahrensfragen aufhalten dürfe, wenn der Volkswille weniger Ausländer im Land wolle.
Retailleau stellte die Unveränderbarkeit der Regeln in Frage, die der Rechtsstaat durchsetzt.
Man kann zur bisherigen Einwanderungspolitik Frankreichs stehen, wie man will; ebenso kann man über deren Folgen für das Land seine eigene Meinung bilden. Doch man sollte so ehrlich sein, die Position seiner Gegner wenigstens korrekt und im Kontext wiederzugeben.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (10.10.2024 13:21).