Ansicht umschalten
Avatar von Ignoramus-et-Ignorabimus
  • Ignoramus-et-Ignorabimus

mehr als 1000 Beiträge seit 07.11.2017

Re: Somme-Offensive der Briten oder Brussilow-Offensive der Russen 1916?

Zumsteinspitze schrieb am 22.06.2023 06:21:

Die Briten haben damals an der Somme als Vorbereitung innerhalb von einer Woche auf ca. 40 Kilometer Frontlinie über 1 mio Granaten auf die deutschen Stellungen einprasseln lassen und unterirdische Minen gezunden. Danach haben sie angenommen, dass sich dort nichts mehr regen kann und ihren Soldaten gesagt, dass sie quasi mit einem Spazierstock die deutschen Stellungen einnehmen könnten. Derweil kamen diese aus ihren tief eingegrabenen "Festungen" unerwartet noch lebend heraus und Maschinengewehre brachten sie auch mit. Das Ergebnis ist bekannt. Die Deutschen waren vorgewarnt, wo die Hauptstoßrichtung der Offensive verlaufen würde. Am Ende der Schlacht standen 12 km eingedrückten deutschen Linien auf einer Frontlänge von 40 km über 1 mio Gefallene, Verwundete, Gefangene und Vermisste beider Seiten gegenüber, wobei die Verluste der Briten und Franzosen höher ausfielen, als die der Deutschen.

Brussilow wandte eine ganz andere Taktik an. Er testete mit kurzem leichten Artilleriefeuer als Vorbereitung, sowie kleineren Infanterie,- bzw. Kavallerieeinheiten an diversen Frontabschnitten die Österreicher, welche dadurch keine Ahnung hatten, wo und wann der erwartete Hauptstoß genau erfolgen würde. Wenn er eine Schwachstelle ausgemacht hatte, wurden von den Russen schnelle Reserven nachgezogen und die Linien der Österreicher durchbrochen. Ist danach die Offensive am Rollen, läuft sie gut weiter. Die Folge war, dass im Laufe der Brussilow-Offensive die komplette Front der Österreicher zusammenbrach und nur mit mühsam von der Westfront abgezogenen deutschen Truppen stabilisiert werden konnte. Diese fehlten natürlich dort und das Unternehmen "Gericht" vor Verdun musste nach und nach aufgegeben werden und an der Somme fehlten die Truppen auch noch. Man kann sogar sagen, dass Brussilow den Briten und Franzosen mit seiner Offensive den Arsch gerettet hat. Die Verluste waren neben der bei den Österreichern auch auch bei den Russen verheerend. Einer der Gründe, warum die Brussilow-Offensive strategisch nicht zu einem vollen Erfolg der Russen führte. Aber die neue Taktik mit quasi Stoßtrupp-Kommandos schnell vorzurücken, wenn die Gelegenheit es ergab, wurde auch schnell von den Deutschen übernommen. Brussilow war einer der fähigsten Militärs seiner Zeit.

Zurück zur Ukraine. Im Moment verwendet die AFU nach meinem Eindruck eine Art Brussilow-Taktik, während die Russen derzeit die Verteidungstaktik der Deutschen an der Somme anwenden. Allerdings sind die Russen derzeit nicht (mehr) eine desolate k.u.k Armee, der es durch innere Probleme an Motivation, Ausrüstung und Technik mangelte und deren Offiziere teilweise auch unfähig waren (im WK1 oder generell natürlich kein Alleinstellungsmerkmal der Österreicher) und die Ukrainer sind es ebenfalls nicht.
Dass eine tief gestaffelte Verteidigung sehr effektiv ist, haben die Ukrainer bei Bachmut und an anderen Orten bisher auch bewiesen. Wobei der psychologische Effekt an der Heimtfront allerdings auch unterschiedlich ausfällt. Die Russen haben dort die Einsatzgruppe Wagner verheizt. So eine Art "Dirlewangers" - auf welche die Gesellschaft verzichten kann. Die Ukrainier haben mehrheitlich normale Wehrpflichtige eingesetzt. Allerdings war der Aufwand beider Seiten ziemlich enorm.

Jede Seite wartet irgendwie auf einen "Lucky Punch". 1917/18 gelang dieser am Anfang den Zentralmächten. Die Russen waren nach der erfolglosen Kerenski-Offensive militärisch geschlagen, die Isonzo-Front der Italiener war durchbrochen und das "Unternehmen Michael" lief auch im Frühjahr 1918 recht erfolgreich.

Die Wende kam erst, nachdem die USA nicht nur mit materieller Unterstützung der Entente eingriffen, sondern mit echter Mannstärke an der Front. Ansonsten waren alle Seiten zu erschöpft, um den Kampf weiter fortzusetzen. Ob so ein Szenario nochmals eintreten wird, wage ich zu bezweifeln. Auch wenn man USA=NATO gleichsetzen kann und das wirtschaftliche Potential der Entente damals auch wesentlich höher war, als das der Zentralmächte.

Bei einem fortgesetzten Zermürbungskrieg sehe ich einen Vorteil der Russen, wenn niemand von ausserhalt aktiv mit echten Truppen eingreifen will.

Lange Rede, kurzer Sinn. Es wird weiterhin bei einer Patt-Situation in einem Stellungskrieg dort bleiben.

ja, Brussilow mit dem ukrainischen Vorgehen im Augenblick zu vergleichen, ist in der Tat spannend. Ich habe auch den Eindruck, dass das gerade eine Art Katz und Maus Spiel ist, bei dem es schlusendlich darauf ankommen wird, wer seine Logistik besser im Griff hat, und bei Bedarf die Truppen schneller dahin verlegen kann, wo sich durch Druck Schwächen in der Verteidigung zeigen.

Wie erfolgreich das letztendlich sein wird, kann man meiner Meinung nach jetzt noch nicht absehen. Gut möglich, dass die russischen Linien halten, andererseits haben die im Süden auch nicht mehr so viel Raum, den sie gegebenenfalls aufgeben könnten.

Unter'm Strich denke ich eben, dass das Ziel der Ukraine bei dieser Offensive vermutlich darin besteht, zumindest soweit im Süden vorzurücken, dass sie die Infrastruktur der Landverbindung zur Krim einfacher unter Feuer nehmen können. Es also eher um eine Verbesserung ihrer strategischen Position geht, als um eine grossflächige Rückeroberung oder um die russische Front im Süden zu teilen.

Ist aber bei der bescheidenen Informationslage auch nicht besonders weit von Kaffeesatzlesen entfernt ;)

Bewerten
- +
Ansicht umschalten