Sentinel schrieb am 26.06.2023 14:05:
Ein Nährboden, der eine Proteststimmung begünstigt, ist vor allem die gesellschaftliche Polarisierung im Hinblick auf verschiedene gesellschaftliche Debatten, wie sie z.B. um den Gebrauch der Sprache, Transformationen traditioneller gesellschaftlicher Werte wie etwa die Ehe oder Familie oder liebgewonnene Gewohnheiten bezüglich des Essverhaltens (Fleischkonsum) oder Mobilität (Auto) stattfinden.
Die linksliberale / progressive Seite stellt sich in diesem Diskurs überwiegend auf eine höhere moralische Stufe und wertet alle anderen als Hinterwälder, Barbaren oder gar Idioten ab - so formulierte etwa letzte Woche der Leitartikel (!) des Spiegel (Autor: ein gewisser Herr Fischer), dass die positive Erwähnung der traditionellen Familie aus "Vater, Mutter und Kind" bereits "blödsinnig" und "bizarr" sei.
Das Problem dabei ist: Wenn ich Leute, die nicht meiner Ansicht sind, a priori als Idioten oder Blödmänner brandmarke, dann werde ich damit weder ihre Herzen noch ihre Köpfe gewinnen, sondern ich werde sie maximal abstoßen.
Und Abstoßung führt zu Zentrifugalkräften: Kräfte, die eine Gesellschaft von innen heraus auseinanderreißen können.
Wir beobachten das in den USA, in der sich Vertreter unterschiedlicher Normenvorstellungen mittlerweile so feindselig gegenüberstehen, dass jedweder Dialog völlig aussichtslos erscheint.
Einer der wesentlichen Gründe dafür: Die moralische Herablassung, mit der das progressive Lager alle anderen Menschen, die nicht mitziehen, behandelt: So bezeichnete Hillary Clinton 2016 im damaligen Wahlkampf potentielle Wähler als "deplorables", nur weil sie eine andere Ansicht vertreten würden. Eine Entgleisung, die sie vermutlich hunderttausende von Stimmen und damit womöglich den Sieg bei den Wahlen in den swing states gekostet haben dürfte.
Und nun kommen wir zur AfD oder zu den rechtsradikalen Parteien:
In Anbetracht unserer spezifischen Historie dürfte es für eine solche Partei eigentlich überhaupt keinen Platz in unserer Gesellschaft geben, und jede Wahstimme für eine solche Partei ist unentschuldbar, Punkt!
Egal wie überheblich oder unfair jemand mir gegenüber gewesen ist, egal wie sehr ich mich von anderen vielleicht gegängelt oder übervorteilt fühle, nichts davon (und auch sonst nichts) rechtfertigt es, die Nazis zu wählen.Aber so sind nun mal die Menschen: Wenn es ihnen zu bunt wird, dann verleihen sie ihrem Unmut halt Ausdruck, und die maximale wirksame Unmutsbekundung scheint von vielen darin gesehen zu werden, den den demokratischen Strukturen den maximal möglichen Schrecken einzujagen, indem man mit der Naziherrschaft droht.
So irre das auch sein mag, und so kategorisch man die AfD auch ablehnt, das sind die Mechanismen und Vorgänge, die sich allem Anschein nach abspielen und die dazu führen, dass die AfD so viel Zulauf erfährt.Jetzt kann man natürlich sagen: Alles klar, wir machen weiter wie bisher und beschimpfen munter weiter all diejenigen, die eine Gasheizung haben und sich keine Wärmepumpe leisten wollen als Mörder, jeden, der ein Schnitzel isst, als Schlächter und jeden, der nicht gendert als Frauenfeind.
Kann man so machen: immer so weiter wie bisher und die Schuld immer bei den anderen Suchen.Nur: so wird man der AfD den Saft bzw. den Wählerzustrom nicht abdrehen können.
Was die Menschen wirklich wollen, ist jemand, der sie ernst nimmt, der sich erst einmal erfolgreich um naheliegende Probleme kümmert (wie zahle ich meine Miete, wie kriege ich einen Job, etc), anstatt primär alle zu belehren, was für schlechte Menschen sie doch alle sind.
Und da ich die üblichen Reflexe und die vorherrschende Debattenkultur nur zu gut kenne, hier nochmal eine ganz klare Verdeutlichung:
Nein, wir sollen keine Parolen der AfD übernehmen, auf gar keinen Fall sollen wir fremdenfeindlich oder diskriminierend sein, schon gar nicht völkisch sein.
Es gibt keine Rechtfertigung oder Entschuldigung, um die AfD zu wählenAber wir müssen endlich aufhören, die Hälfte der Gesellschaft zu beschimpfen und sie zu Idioten zu erklären. Das würde schon mal ein immens wichtiger erster Schritt sein, um den roten Teppich zur AfD wegzuziehen.
DANKE