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  • Pnyx (1)

mehr als 1000 Beiträge seit 01.07.2017

Gewerkschaften

Grundsätzlich stimme ich mit Hendrig überein, sehe aber Bedarf zu weiteren Überlegungen.

Verdienstvoll, dass der Autor auf den Proletarier-Status der Mehrheit hinweist. Dieser ist den Meisten nicht bewusst. Ihr Leben fühlt sich in einem Land mit einem Wohlstandsniveau wie Deutschland denn doch anders an und ausserdem haftet dem Begriff ein Odium an, dem man nur zu gerne entkommen sein will. Tatsache ist aber, dass ein sehr beträchtlicher Teil der Bevölkerung einzig auf seine / ihre Arbeitskraft angewiesen ist, wenn es darum geht, die Existenz zu sichern und sich in der Gesellschaft einen gewissen Partizipationspegel zu sichern. Das erfüllt den Begriff voll und ganz.

Gewerkschaften sind eine prekäre Institution. Einerseits kann nur eine gewerkschaftliche Organisation der Arbeitnehmer eines Betriebes bzw. einer Branche, diesen kollektiv so viel Macht verschaffen, dass der Durchmarsch, die Diktatur der Arbeitgeberseite verhindert, zumindest teilweise pariert werden kann. Es gibt aber zwei wesentliche Probleme. Nach dem erfolgreichen Aufbau einer Gewerkschaft, nach einer gewissen Etablierung, spielt sich ein neues Machtgleichgewicht ein, die Gewerkschaft wird immer mehr ins institutionelle Gesamtkonstrukt eingebunden. Das führt mit der Zeit bei ihren führenden exekutiven Mitgliedern zu Interessenverlagerungen, die von der Gegenseite gnadenlos ausgenutzt werden. Menschen sind korruptibel. Nach und nach verlagert sich das gewerkschaftliche Wirken und wird kompatibler mit den Kapitalinteressen. Das ist - und das ist das zweite grundsätzliche Problem - in der institutionellen Logik immer schon angelegt. Voraussetzung für Leistungsverbesserungen ist das Wohlergehen der Firma. Dieses liegt also immer auch im Interesse der Gewerkschaft, die dadurch gezwungen wird, gleichsam auf zwei Hochzeiten zu tanzen. Dieser Spagat neigt dazu, nach und nach immer mehr die Kapitalinteressen zu priorisieren.

Dennoch, im Rahmen des bürgerlichen Kapitalismus gibt es keine Alternative zur Institution Gewerkschaft. Man darf ihr Potential aber nicht überschätzen. Mehr als eine graduelle Verbesserung der Lage der Proletarier ist damit nicht zu erreichen. Und je mehr Zeit vergeht, umso mehr werden etablierte Gewerkschaften zu einem systemimmanenten Stabilisierungsinstrument. Das ist kaum zu vermeiden.

Es gibt keinen Weg, aus dem Kapitalismus eine voll und dauerhafte Wirtschaftsform zu machen, weder sozial noch ökologisch. Die inneren Zwänge verhindern das zuverlässig. Nur seine Überwindung kann z. B. den Gini-Index nachhaltig in eine gerechte Zone führen oder verhindern, dass die natürlichen Ressourcen ohne Rücksicht auf ihre Reproduktion genutzt, ausgebeutet, vernutzt, vernichtet werden.

Das bedeutet allerdings keine Absage an gewerkschaftliche Arbeit, an melioristische Bemühungen allgemein. Da scheint mir der Autor das Kind etwas mit dem Bad auszuschütten. Gegen die beschriebenen Deformationen kann vorgegangen werden, auch wenn es mühsam und langwierig ist. Nur ein organisiertes Kollektiv kann dem Kapital ein Minimum an Paroli bieten. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Macht-Balance allzu sehr in deren Richtung geneigt. In einem gewissen Sinn werden so nur Symptome bekämpft, es ist gut, sich dessen bewusst zu sein. Aber das ist immerhin deutlich besser als nichts.

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