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Re: "Männer sind mitgemeint" - Der Artikel liefert gutes Anschaungsmaterial

mind.dispersal schrieb am 05.09.2021 15:02:

Gerade weil die Beispiele im 2. Abschnitt so gut nachvollziehbar sind, veranschaulichen sie wunderbar, wie es vielen Frauen so geht, wenn man sprachlich durch das generische Maskulinum einfach so ausgespart, bzw. übergangen wird, wo man doch eigentlich substanziell Anteil an der Praxis hat.

Das liegt meiner Meinung nach an einem fundamentalen Irrtum der Grammatiker. Das ganze ist nämlich nur dann ein generisches Maskulinum, wenn man es generisches Maskulinum nennt. Benennt man es anders, ist es einfach nur noch generisch, so wie es vom Sprachgebrauch her auch ist. Dein Problem hast du also mit den zugegeben früher in der Regel patriarchalisch geprägten Grammatikern, die sich dieses Genus kurzerhand symbolisch aneigneten, und übereifrigen Akademikern, die meinen, ihre Karte von der Welt sei die Welt.

Eher amüsant ist dann aber, wenn dieses "mitgemeint sein" plötzlich die gesellschaftliche Kommunikation gefährdet und von Verzerrungen und Lügen die Rede ist, sobald es Männer betrifft.

Die aufwendige privilegierte weibliche Endung im Deutschen als Normalfall zu benutzen ist sprachlich ineffizient. Zusätzliche, redundante Silben neigen in der Sprachentwicklung dazu, verschluckt zu werden. Wenn du wissen willst, wie kopfgesteuerte Versuche des Sprachimplantats ausgehen, dann sieh dir mal die Diskussionen über die Wiedereinführung des "reinen" Altgriechisch als Alltagssprache in Griechenland seit dem 19. Jahrhundert an. Gegen den alltäglichen Sprachgebrauch des natürlich gewachsenen Neugriechisch kämpfen da regelmässig nur die Ultrarechten an. Wenn also die Alltagssprache aus Intention des allgemeinen Sprachgebrauchs einen neuen inklusiven Genus entwickelt, dann ist es an der Zeit für die Grammatiker, entsprechende Regeln aufzustellen - aber nicht umgekehrt.

Letztendlich kann man einfach feststellen: wenn schon der Gleichberechtigung wegen Gendern, dann richtig und nicht missverständlich. Und am besten nur im öffentlichen Schriftverkehr mit Platzhaltern und mündlich kann man (beispielhaft) beim althergebrachten: "Damen und Herren" bleiben.

Erstens mal führt es zur Unlesbarkeit, wenn schriftlicher und mündlicher Sprachgebrauch abweichen, und das fräst sich mit der Zeit in unvorhersehbarer Weise glatt. Beispiel gefällig? In Spanien war im Briefverkehr früher die Anrede "Vuestra Merced" und "Vuestras Mercedes" üblich, was "Euer Gnaden" bzw. im Plural "Eure Gnaden" heisst. Da das etwas umständlich zu schreiben ist, vor allem per Handschrift, setzte sich irgendwann im 16. oder 17. Jahrhundert die Schreibweise "Vsted." bzw. "Vstedes." als allgemeinverständliche Kurzschrift dafür durch. Und was machten die Leute, die diese Briefe lasen? Wie sprachen sie das aus? Nun, in alter Schreibweise stand "V" sowohl für V als auch für U, und deshalb heisst die gesprochene Höflichkeitsanrede im spanischen heute universell "Usted" bzw. "Ustedes". Das war kaum so geplant.

"Damen und Herren" ist ein relativ neuer Sprachgebrauch. Im 19. Jahrhundert war "Werte Herren" wohl noch der Normalfall. Es lässt sich nicht abstreiten, dass dies in keinster Weise Frauen einschliesst, den eine oder anderen Fortschritt im Sprachgebrauch scheint es also wohl doch gegeben zu haben. Die Entwertung der männlichen Muskelkraft begann übrigens im Maschinenzeitalter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in England. Der mechanische Fortschritt ermöglichte es so ab etwa 1830, in Spinnereien und Webereien statt teurer männlicher Arbeitskräfte für viele Aufgaben billigere weibliche "Hände" und Kinder einzusetzen. Der Lohn dieser Arbeitskräfte war geringer, weil die Reproduktion ihrer Arbeitskraft an der Maschine bei gleicher Produktivität in der Tätigkeit nach Marx'scher Analyse des Kapitals weniger Lebensmittel erforderte und somit die Fabriklöhne der Männer unterboten werden konnten. Folglich sanken flächendeckend Familien ins tiefste Elend ab, weil die Männer grösstenteils arbeitslos wurden, und die Frauen und Kinder alleine auf niedrigerem Niveau den Broterwerb stemmen mussten. Dies führte zu zahlreichen sozialen Verwerfungen, zu deren Ausgleich dann die bürgerlichen Fabrikherren erste gesetzliche Beschränkungen der Arbeitszeit für Frauen und Kinder einführten, wie das Nachtarbeitsverbot für Frauen und die Beschränkung der Arbeitszeit von Kindern unter acht Jahren auf unter 12 Stunden oder so.

Der Eintritt der Frauen in den industriellen Arbeitsmarkt war also erst einmal kein Akt der Befreiung, sondern einer der Versklavung und der Verarmung. Dies ändert sich erst später, als mit schwer erkämpften Bildungsprivilegien den Frauen allgemein auch Arbeitsplätze mit höherem Reproduktionswert wegen aufwendigen Ausbildungskosten zugänglich werden.
Der Kapitalismus neigt allerdings dazu, gesellschaftliches Gemeingut zu privatisieren und soziale Kosten zu externalisieren. Das heisst, die früher implizit in den männlichen Arbeitslöhnen enthaltenen familiären Reproduktionskosten der männliche Arbeitskraft (wozu sämtliche Haushalts-, Erziehungs- und familiäre Arbeit zählen) wurden bei den Löhnen der Frauen schlicht ignoriert - weil sie in der kapitalistischen Praxis eben erfolgreich ignoriert werden konnten, denn das einzige Kriterium, dass dort zählt, ist die Produktionskosten zum Minimum zu senken - und zwar komplett unabhängig davon, ob das Unternehmen von einem männlichen oder einem weiblichen Kapitalisten geleitet wird. Die Ausbeutung ergibt sich aus der Charaktermaske, und nicht aus der Person.
Der Kapitalismus ist also durchaus daran interessiert, weibliches Personal zu beschäftigen - wenn es die Lohnkosten senkt. Wenn es die Lohnkosten nicht senkt, oder gar effektiv oder auch nur imaginär steigert, ist der Kapitalismus nicht wirklich interessiert, aber schafft es vielleicht, aus Marketinggründen Interesse zu heucheln. Das zählt dann aber auch schon wieder zur Zirkulationsphase und nicht zur für die Profite wirklich entscheidenden Produktionsphase.

Wenn also die Arbeiterin bei Amazon, Ikea oder meinetwegen einer bangladeschianischen Textilfabrik mit medienwirksamer Genderpolicy ausgebeutet wird, ändert das nichts an der Tatsache der Ausbeutung. Ausbeutung findet auf jeden Fall statt, denn ohne Ausbeutung gibt es keinen kapitalistischen Profit. In der kapitalistischen Gesellschaft kann es also für die meisten keine Gleichberechtigung geben, sondern bestenfalls nur eine Gleichentrechtigung. Das Herumbasteln an Sprachregelungen wird dieses grundsätzliche Problem nie lösen können, und führt letztlich lediglich zur Spaltung der Lohnabhängigen, die damit davon abgelenkt werden, gemeinsam für ihre Interessen zu kämpfen.

Das war jetzt etwas abschweifend, ich hoffe mal der Bezug und der Sinn sind noch einigermassen verständlich, ich springe ein wenig.,,

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