mind.dispersal schrieb am 05.09.2021 17:10:
Das ist eine schöne theoretische Abhandlung. Zur Alltagsrealität, welche Sprache - wie du ja festgestellt hast - hauptsächlich prägt, gehört aber eben auch, dass niemand sich unter einem "Arzt" ein geschlechtsloses Neutrum vorstellt, nur weil er mit dem "generischen Maskulinum" vertraut ist. Es stammt aus einer Zeit, in der es kaum oder keine Ärztinnen gab und ist im alltäglichen Sprachgebrauch längst passé. Ein weiblicher "Arzt" ist eine Ärztin. Ein weiblicher "Politiker" ist eine Politikerin, sowie sie sprachlich ganz selbstverständlich auch in der Mehrzahl Ärztinnen und Politikerinnen sind.
Nun, es gibt da den semantischen Unterschied zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten. Auf abstrakter Ebene gibt es keinen Unterschied zwischen einem Arzt und einer Ärztin, beide üben identisch den Heilberuf nach Stand der wissenschaftlichen Kenntnisse aus (hoffentlich), und die effizientere abstrakte Bezeichnung dafür ist eben "Arzt", das ist die kompakteste Form, und deshalb selektiert der sprachliche Evolutionsprozess diese Form. Dass das von Theoretikern als maskuline Form bezeichnet wird, ändert nichts daran, dass es als abstrakte Bezeichnung neutral gebraucht wird. Spreche ich von einem konkreten Fall eines Arztes weiblichen Geschlechts oder spreche spezifisch weibliche Angehörige dieses Berufs an, dann sage ich "Ärztin" oder "Ärztinnen". Interessant dabei ist übrigens, dass es trotz des angeblichen generischen "Maskulinum" keine solche direkte Methode gibt, kurz explizit spezifisch männliche Ärzte gesondert zu bezeichnen.
Meiner Meinung nach ist das Gendern eben das Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung der Geschlechtergleichstellung und nicht eine Forderung der Anpassung an eine solche. Die Forderung besteht, weil sich das generische Maskulinum in sehr vielen Fällen für sehr viele Menschen bereits falsch anfühlt.
Weil sie meinen gelernt zu haben, dass das "Maskulinum" sein soll und deshalb am allgemeinen Sprachgebrauch zweifeln? Kann sein. In dem Fall wird sich schon eine entsprechende Ausdrucksform im täglichen Sprachgebrauch herausbilden, das braucht meiner Meinung nach keine künstliche Nachhilfe.
Und selbstverständlich meine ich mit "richtig Gendern" nicht, jetzt ersatzweise ein generisches Femininum einzuführen, wie es die verunglückten Beispiele im Artikel tun.
Manch einem wird man zu diesem Verständnis erstmal einen guten Urologen empfehlen, dessen Name einem jetzt entfallen ist, und sich im anschließenden Telefonat mit dem generischen Maskulinum herausreden müssen. :D
Genau für diese Fälle kann man ja nach einer guten Urologin fragen. Nach einem guten männlichen Urologen zu fragen erfordert schon wieder sprachlichen Mehraufwand.
Da ist aber wohl tatsächlich etwas in Bewegung. Nur wird das nicht von Ideologen gelöst werden, sondern da, wo Sprache lebt, im täglichen Gespräch.
Vielleicht sieht die Sache in ein paar Jahrzehnten oder so schon wieder ganz anders aus, da wird man wahrscheinlich über die heutigen Sprachverrenkungen und antiquierten Formen lachen.