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  • McGyver777

mehr als 1000 Beiträge seit 25.03.2002

Aus: "Die Weltbühne", 16-1, 1920, "Brief nach Wien"

Aus: "Die Weltbühne", 16-1, 1920

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Brief nach Wien

Lieber Herr!
Wir hören hier so viel von Wien, und davon, wie schlecht 
es dieser sterbenden Stadt nun geht, und wie hilfsbedürftig 
sie geworden ist, und wie orientalisch: es gebe nur ganz oben 
und ganz unten, und zwischen Lumpenproletariat und gleißen-
dem, lackiertem Reichtum zuckt eine ganze Mittelschicht in der 
Agonie. Aber Sie wissen doch wenigstens - bei allem 
Elend -, woran Sie sind. Wir wissens nicht. 
Bei uns liegen die Dinge so, daß noch Niemand ahnt, 
was aus der Entwicklung des neuen Berlin herauskommen 
wird. Nur: daß etwas unsagbar Scheußliches herauskommt, 
das wissen wir schon. Aber Alles ist noch im Lauf, Alles 
fließt, und so sieht es jetzt hier aus: 
Dem Mittelstand gehts am schlechtesten. Er zehrt vom 
alten Ruhm, vom alten Glanz und von der Erinnerung an den 
alten Kempinski (der eine spezifisch berlinische Erscheinung 
gewesen ist und so recht ein Symbol für diesen alten luxu-
riösen Mittelstand). Das ist dahin. Sie laufen noch auf den 
alten Stiefeln - aber wie lange sollen die halten? Was dann 
kommt, ist die schmerzlich-bittere Erkenntnis, daß es nun aus 
ist mit der bescheidenen Lebenshaltung ("Sechserdasein" 
nannte es Fontane), mit jenem kargen Leben, das aber immer 
noch reich war, weil man billig Butter und noch billiger 
geistige Werte einkaufen konnte. Und bei allem leisen Lächeln 

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über die "Kunstwart"-Leute: sie haben doch immerhin ein 
Licht in ihr Leben hineingetragen, und wenn ich das Neue 
alles mitansehe, dann kann ich über die Leute von damals 
nicht mehr lächeln. 
Denen gehts also nicht gut, und über ein Weilchen wer-
den sie klaftertief in ihrer Lebenshaltung gesunken sein. Und 
die Neuen? Und die Heraufgekommenen? 
Sehen Sie, lieber Herr, das ist ja das Traurige, wer da 
heraufgekommen ist. Wenn früher einmal solch große Um-
wälzungen vor sich gingen, dann stiegen vielleicht Freibeuter 
auf, politische Abenteurer oder starkknochige Geschäftsleute . 
der Fugger-Zeit, deren Väter wohl noch den Pflug gelenkt 
hatten. War das schlimm? Für die grade Unterliegenden 
sicherlich. Aber es kam frisches, unverbrauchtes Blut in die 
Gesellschaft, es kamen neue, windumwehte Leute herein, breit-
beinige Kerls, deren Söhne dann die Verfeinerung rasch weg- 
hatten, doch auch noch lange Generationen hindurch die 
Stärke vom Stammvater, der Muskeln wie Eisen gehabt hatte. 
Bei uns? 
Bei uns ist ein schwacher und verbrauchter Großstadt-
typ heraufgekommen - Leute, die zwar viel Skrupellosigkeit, 
aber doch verhältnismäßig wenig Kraft aufzuweisen haben. 
Was sind denn das meist für Menschen, diese neuen Reichen? 
Bauern? Ach, wären sies! Um die reich gewordenen Bauern-
generationen ist mir nicht bange. Aber die Mehrzahl, das sind 
doch kleine Krämer, denen eine richtige Konjunktur die rich- . 
tigen Waren in die Hände gespielt hat, und die nicht so dumm 
gewesen sind, die nun von der Hand zu weisen. Schlechtes 
Blut. Keine Rasse. Und vor allem: keine Kraft. 
Und das nun bestimmt hier den Ton, das hat Geld und 
gibt es mit vollen Händen aus. Man sieht in den elegantesten 
Lokalen Berlins Gesichter mit Mündern - Münder können 
einem ja nichts vormachen - mit Mündern, lieber Herr, wie 
sie früher die Nachtportiers nicht gehabt haben. Das ist oben-
auf, das kauft Bilder und füllt die Logen. Noch halten die 
guten alten Familien, soweit sie nicht ausgestorben sind, noch 
halten sie Stange, noch leisten sie Widerstand, noch spürt man 
hier und da kleine Hemmungen. Aber wie lange wird das 
anhalten? Schließlich ist ja doch Geld eine Waffe, der die 
Gesellschaft auf die Dauer der Jahre nicht widerstehen kann 
- und dann? Und dann? 
Dann haben wir die Verpöbelung Deutschlands, nicht 
nur Berlins in vollem Maße. Denn dieses neue verbrauchte, 
nicht gute Blut wird natürlich in der zweiten Generation noch 
übler werden. Es ging mit diesen neuen Reichen allenfalls 
an, solange sies noch nicht waren, damals, als sie um jedes 
Markstück sich quälen mußten. Aber nun sehen Sie sich diese 

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dicken, in Samt gequetschten Frauen an, sehen Sie diese blut-
leeren, pinselblonden Söhnchen, denen heute Vaterns Geld 
alles leicht macht, und die nicht mehr zu kämpfen brauchen, 
also noch widerstandsunfähiger werden. Und es ist nicht ein-
mal das schöne Schauspiel einer Dekadenz: es ist einfach 
Schwäche, die sich hinter Frechheit verbirgt. Und stillose 
Schwäche. 
Das Malheur kommt erst. Es ist dann da, wenn diese 
kurzstirnige, kleinkalibrige Rasse - ob Christen oder Juden, 
ist ganz gleichgültig - fest im Sattel sitzt, wenn die kleinen 
Unsicherheiten abgestreift sein werden, und wenn dem Sohn 
die kleinen faux pas, die heut alle Welt beim Vater belächelt, 
nicht mehr passieren. Er ißt Hummer nicht mit dem Suppen-
löffel, o nein! Er weiß, was sich gehört. Mit Rilke wird er 
nicht ganz so richtig umgehen. 
Doch er wird sich da auch ein Air geben. Aber daß diese 
Schiebermoral, diese Selbstvergottung, diese Anbetung des 
alten schlechten deutschen Geistes ("Bei uns herrschte damals 
doch wenigstens Ordnung" - notabene: eine, die sie reich 
gemacht hat ... ), daß diese unbedingte Sicherheit, her-
rührend von der Annahme, daß zwar nicht alles mit Geld, 
aber alles mit sehr viel Geld zu machen sei - daß diese neue 
Welt die alte in Grund und Boden korrumpieren wird: darauf 
können Sie sich verlassen. 
Unser Elend ist groß. Ob es wirtschaftlich je eure Not 
erreichen wird, steht dahin. Aber daß wir in dreißig Jahren 
eine nette Gesellschaft an der Spitze haben werden - wo sitzt 
heute Geld! - das weiß ich gewiß. 
Grüßen Sie Wien von mir, lieber Herr. Ich kenne es 
garnicht - aber grüßen Sie es. Grüßen Sie den großen 
Schriftsteller und grüßen Sie die paar guten. Grüßen Sie die 
lustige Zeichnerin Ada und grüßen Sie sich recht herzlich. 
Und sagen Sie Allen, daß es Berlin noch nicht so schlecht 
geht wie Wien. Aber wir werden sehen, was sich tun läßt. 
Ihr 
Peter Panter

--

License: Creative Commons 3.0
http://www.archive.org/details/DieWeltbhne16-11920


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