Olle Knolle schrieb am 26.01.2024 16:28:
Nein. Aber das könnte daran liegen, dass ich einfach komplexer denke, als manch anderer Forent. Gutes Beispiel ist Ihre "Cui Bono"-Frage. Denn in den meisten Fällen ist die Frage, wer von etwas profitiert vielschichtig und gar nicht leicht zu beantworten. Mal ganz davon abgesehen, dass diese nahezu immer auch mehrere "Treffer" liefert.
Wie wäre es dann mit etwas "Futter" zum vertieften Nachdenken 😉
An die Spitze der so entstandenen Lockheed Martin Corporation, des größten Rüstungskonzerns der Welt, trat Norman R. Augustine, zuvor CEO von Martin-Marietta, der bei weitem gerissenste Akteur im Rüstungsgeschäft. In Washington bestens vernetzt, war Augustine Perry in Sachen Umstrukturierungs-Kostenerstattung für Konzerne wie den seinen – einer milliardenschweren Art der „Sozialhilfe“ für Großindustrielle – konzeptionell gern behilflich gewesen. 1994 sagte er scharfsichtig voraus, dass die US-Rüstungsausgaben sich 1997 erholt haben würden (und lag damit nur um ein Jahr daneben). Zwischenzeitlich würde er die Welt nach neuen Absatzmärkten durchkämmen. Hierbei konnte Augustine auf den Beistand seiner Regierung zählen, denn er war Mitglied des (wenig bekannten) Defense Policy Advisory Board, das den Verteidigungsminister in Rüstungsexportfragen berät. Vielversprechend erschien besonders der neue Markt, der sich unter den ehemaligen Mitgliedern des dahingeschiedenen Warschauer Paktes auftat. Wenn diese der Nato beiträten, wären sie geborene Kunden für Erzeugnisse wie den Kampfflieger F-16, den Lockheed von General Dynamics geerbt hatte.
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Und siehe da, die Nato wurde dann unter der Führung Bill Clintons tatsächlich aktiv und bewegte sich entschieden ostwärts, was auch immer die republikanischen Vorgänger der neuen Administration an Abmachungen mit den Russen getroffen haben mochten. Der Vorstoß erfolgte an verschiedenen Fronten. In Warschau und anderen osteuropäischen Hauptstädten hatten sich bereits Emissäre der US-Rüstungsindustrie nobel etabliert. „Lockheed richtete schon unmittelbar nach dem Mauerfall seine Blicke auf Polen“, sagte mir Dick Pawloski, ein viele Jahre lang in Osteuropa aktiver Lockheed-Verkäufer. „Rüstungslieferanten strömten von da an in all diese Länder.“Mittlerweile hatte ein Intellektuellenklüngel, der sich im Dienst der RAND Corporation mit außenpolitischen Fragen befasste – einer seit jeher von Militäraufträgen lebenden Denkfabrik –, an die Arbeit gemacht. Listig entwickelten und verbreiteten diese Leute das Argument, eine Osterweiterung der Nato diene der Friedenssicherung in Europa und richte sich keineswegs gegen Russland. Der führende Kopf der Truppe war der mittlerweile verstorbene Ron Asmus. Nur wenige Monate nach dem Mauerfall hatte dieser in Warschau einen RAND-Workshop veranstaltet, bei dem die Möglichkeit, amerikanische Streitkräfte auf polnischem Boden zu stationieren, erörtert wurde. Als kundige US-Teilnehmer traten dort Asmus selbst und Dan Fried – ein Mann des auswärtigen Dienstes, den Kollegen als „Hardliner“ gegenüber den Russen einschätzten – sowie Eric Edelman auf, Letzterer später einer der Sicherheitsberater Vizepräsident Cheneys.
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„Im Weißen Haus war bekannt, dass Zbigniew Brzezinski Clinton gesagt hatte, er würde bei der 1996er Wahl die polnischen Stimmen verlieren, wenn er Polen nicht in die Nato ließe“, versicherte mir ein früherer Mitarbeiter Clintons im Weißen Haus, der ebenfalls anonym bleiben will.Für ein so fein auf Wahlkampfdetails eingestimmtes Ohr wie das des 42. US-Präsidenten hätte der bloße Hinweis verlockend genug geklungen, da polnischstämmige Amerikaner einen wichtigen Wählerblock im Mittleren Westen bilden. Es war folglich kaum Zufall, dass Clinton 1996 von Chicago aus – zwei Wochen vor der Wahl – ankündigte, die Nato werde bis 1999 die ersten Neumitglieder aufnehmen (nämlich Polen, die Tschechische Republik und Ungarn). Er stellte auch klar, dass die Nato dort nicht haltmachen würde. „Sie muss allen neuen Demokratien in Mitteleuropa die Hand reichen“, ergänzte er, „auch den baltischen Staaten und den jetzt unabhängigen Staaten der früheren Sowjetunion.“ Nichts von alledem, betonte Clinton, sollte die Russen beunruhigen: „Die Nato wird für größere Stabilität in Europa sorgen, und Russland wird zu den Nutznießern zählen.“ Doch nicht jeder sah die Dinge so. In Moskau zirkulierte die Vorstellung, der Nato-Expansion sei „mit Raketen“ zu begegnen.
Charles Freeman, 1993/94 Assistant Secretary für Fragen der internationalen Sicherheit im Pentagon, erinnert sich, dass die neue Politik von „triumphalistischen Kalten Kriegern“ vorangetrieben worden sei, die der Devise folgten: „Die Russen liegen am Boden, geben wir ihnen doch noch ‘nen Tritt.“ Freeman war dafür eingetreten, ganz anders zu verfahren, und hatte die „Partnership for Peace“ lanciert. Die sollte vermeiden helfen, dass Washington sich Moskau zum Feind machte. Doch 1996, erinnert er sich, wurde diese Politik „der unwiderstehlichen Verlockung“ geopfert, „die polnischen Stimmen in Milwaukee zu gewinnen.“
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Zurück nach Washington. Dort war inzwischen eine neue, beeindruckende Lobby-Gruppe in Erscheinung getreten: das U. S. Committee to Expand Nato. Sein Mitbegründer und Vorsitzender, Bruce P. Jackson, war ein früherer Nachrichtendienstler der U. S. Army und zu Reagans Zeiten im Pentagon tätig gewesen. Nun hatte Jackson sich dem Streben nach einem „Europe whole, free and at peace“ verschrieben. Seine Leistungen im Dienste des Komitees wurden nicht bezahlt. Zum Glück hatte er seinen Geldberuf beibehalten – bei der Lockheed Martin Corporation (LMC), wo er als Vizepräsident für Strategie und Planung für Augustine arbeitete.
https://www.blaetter.de/ausgabe/2015/februar/game-on-ost-gegen-west
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (26.01.2024 17:09).