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  • mackenzen

mehr als 1000 Beiträge seit 25.09.2001

(auszug) interview mit erwin chargaff (biowissenschaftler gestorben 2002)

Seit das Genom vor einem Jahr entschlüsselt wurde, glauben viele
Wissenschaftler, sogar das Leben gestalten zu können.

Ja, das ist furchtbar. Und es ist so lächerlich und so unendlich
traurig zugleich. Sie haben den Respekt verloren. Kein
Wissenschaftler, niemand weiss, was das Leben ist, und niemand wird
es je erklären können. Es ist ein ewiges Mysterium. Ist es Gas? Eine
Flüssigkeit? Was passiert kurz nach der Befruchtung? Aber die
Naturwissenschaftler führen ja nun einen Krieg gegen die Natur, die
Zukunft wird uns deshalb verfluchen. Sie manipulieren ungestüm an den
Genen herum, die in Milliarden von Jahren langsam entstanden sind,
sie hauen der Natur auf den Kopf und spüren nicht, dass sie sich
selbst auf den Kopf hauen. Sie wollen langes Leben, ewiges Leben, sie
wollen den Tod besiegen, das ist teuflisch.

Unsterblichkeit - das ist doch ein alter Traum der Menschheit! Selbst
so ein feinsinniger Dichter wie Elias Canetti wollte den Tod
besiegen.

Ich habe ihn zwei Jahre vor seinem Tod kennen gelernt - es ist keine
Weisheit dabei herausgekommen. Er hat sich als Tod-Feind gesehen, als
einen Kämpfer gegen den Tod - ich fand es einfach nur dumm. Aber der
Tod hat sich heute in eine Peinlichkeit verwandelt, die Kunst des
Sterbens ist uns abhanden gekommen. Schon das Altern - vor allem in
Amerika - wird wie eine ansteckende Krankheit gesehen, von der man
sich fernhalten muss: mit Salben, Pillen, Maschinen, Medikamenten.
Sie wollen zwar alle alt werden, aber nicht zerfallend alt werden,
wie es natürlich ist.

"Wir werden bald wissen, wie man unsterblich wird", jubiliert Marina
Boisselier, die als erste Frau der Welt ein geklontes Kind zur Welt
bringen will: "Wir machen den Tod rückgängig!"

Sie soll es probieren.

Marina Boisselier will ein im Alter von zehn Monaten verstorbenes
Kind noch einmal auf die Welt bringen: "Ich will es seinen Eltern
wiedergeben!"

Die Gentechnik hat das Denken brutalisiert. Wir haben uns an
unvorstellbare Gräuel gewöhnt. Was wird denn ein Klon sein? Ein
Sklave? Ein Konstrukt? Wie viele exekutionswürdige Wesen wird es
geben, bevor ein lebensfähiges Etwas entsteht? Wird es gehunfähig
sein? Denkunfähig? Wird man die verkrüppelten Klone in Klon-Heime
stecken? Sie ermorden, sie hinrichten?

Ohne Sie, Herr Chargaff, gäbe es die von Ihnen so verachtete
Gentechnologie nicht, Sie haben die Grundlagen dafür geschaffen, dass
man heute die Genstruktur lesen kann. Sie haben jenen, die Sie heute
als Brandstifter verteufeln, das Feuerzeug geliefert!

Das ist nun viel schlechter Wille bei Ihnen, das zu sagen.
Wissenschaft ist nicht das Produkt eines einzigen Gehirns - meine
Entdeckungen wären dann zwei, drei Jahre später von einem anderen
gemacht worden. Ich mache mir keine Vorwürfe.

Was war für Sie der furchtbarste Tag in Ihrem Leben als
Wissenschaftler?

Hiroshima. Hiroshima zeigt, dass die Naturwissenschaft untrennbar mit
Mord verbunden ist. Eine Todeswissenschaft. Und wir sind daran alle
mitschuldig. 1961 war ich bei einer Privataudienz bei meinem
Lieblingspapst Johannes XXIII. In der ersten Reihe vor mir war Otto
Hahn, im Frack, 82-jährig, sehr gebrechlich. Er hat teilweise auf den
Knien gelegen - von Vorwürfen gepeinigt.

Die Spaltung des Atomkerns ..

.. und des Zellkerns sind die Sündenfälle der Naturwissenschaften.
Und all die Versuche, die nun gemacht werden, dass man Gene in Genome
einführt, die davon nicht geträumt haben, all diese Eingriffe in das
Erbmaterial von Nahrungsmitteln oder Lebewesen: Das sind grösste
Verbrechen. Wenn diese Fabrikate in die Welt entlassen werden, kann
man sie nicht mehr zurückholen. Dass der Mensch die Evolution in die
eigene Hand nehmen will, das ist des Teufels, das ist der Auswurf.
Der Mensch ist nun an einer Kante angelangt, über die er nicht
hinausgehen soll. Aber er wird es tun, obwohl er es nicht kann!

Wir können es sehr wohl, meint der amerikanische Wissenschaftler Ron
McKay, der Zellen so verändern will, dass sie körpereigenes Insulin
herstellen, sodass Zuckerkranke bald ohne die tägliche Spritze
auskommen. Er tönt: "Wir sind besser als Gott!"

Das ist eine vollkommene Anmassung. Ein Höhepunkt in den letzten
Jahren war die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und ..

.. damit die Möglichkeit, Leben zu gestalten.

Ja? Nein. Ein Geschäftsmann, Herr Craig Venter, hat das Genom
entziffert, aber es wurden dabei Prinzipien fallen gelassen: Eine
Entdeckung muss unabhängig bestätigt werden. Das heisst, eine Arbeit
ist erst gültig, wenn eine andere Arbeit zu ähnlichen oder gleichen
Resultaten führt. Und es ist nun das erste Mal in der
Wissenschaftsgeschichte, dass eine Arbeit publiziert wird, die nicht
wiederholt werden kann. Wir sind in einem unerhörten Zustand des
Nichtwissens und ..

Wie? Die Entschlüsselung des Genoms - alles Lüge?

Nicht alles, aber vieles kann vollkommen falsch sein. Wir wissen
nicht, wie wir seinen Buchstabensalat verwenden können: Es ist, als
ob man in ein Gemisch von Milliarden von Buchstaben eine Zeile von
Goethe hineinwirft und dann denkt, es wird ein Text entstehen!

Sie sind ein Nörgler.

Nein. Es wird nichts herauskommen ausser einem Buch mit unendlich
vielen Seiten nicht lesbarem Text. Es ist wirklich wie der Bau der
Pyramiden: unnötig wie Cheops. Ein Klotz, der sinnlos in der
Landschaft rumsteht - aber Menschenleben und viel Geld gekostet hat.

Kollegen von Ihnen sehen das anders. James Watson sagt: "Wir dachten
bisher, unser Schicksal liegt in den Sternen. Jetzt wissen wir, dass
es zum grossen Teil in den Genen liegt."

Das ist Blödsinn! Die Gene sind heute ja alles. Da herrscht ein
fundamentalistischer Glaube, die Naturwissenschaftler sind die
Taliban der Moderne. Watson möchte ja auch gesündere und klügere
Menschen schaffen. Die Züchtung des Übermenschen - ich halte mir die
Ohren zu. Hat das nicht auch Hitler mal probiert? Aber ich will
Watson nicht kommentieren, er ist es nicht wert.

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