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  • archenoe

mehr als 1000 Beiträge seit 05.02.2004

Das Unvermögen der Kritik

Die gleichzeitige Kritik an Russland und der Ukraine, an den USA, an der NATO, der EU, an Deutschland usw. usw. ist für die wenigsten möglich, weil sie diese Kritik für positionslos und moralisch-ethisch verwerflich halten. Die meisten positionieren sich nahezu ohne Einschränkung pro-russisch oder pro-westlich und halten diese Position für moralisch-ethisch alternativlos und deshalb für einzig legitim/vertretbar. Manche von ihnen fügen noch als Zugeständnis oder Lippenbekenntnis eine Kritik des russischen Angriffs auf die Ukraine oder eine Kritik vergangener oder aktueller Kriege der USA oder NATO hinzu.

Worin liegen die Hauptursachen für diese schon der allgemeinen Vernunft und erst recht der Kenntnis der Weltlage widersprechenden Haltung, die sich in der einen oder anderen Weise an der Realität blamiert?

Um die Kenntnis der Weltlage zu schärfen und die Hauptursachen in den Blick zu nehmen, bieten sich als Diskussionsgrundlage z.B. solche Texte an:
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/ukraine-russland-nato
https://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=aktuelles&index=0&posnr=808

Ich möchte hier aber auf die sozialpsychologischen Konsequenzen des nationalstaatlich verfassten kapitalistisch-internationalen Konkurrenzkampfes eingehen, die als Folgen dieses Kampfes selbst wieder zu Ursachen werden bzw. die "materiellen" Ursachen "ideell", aber teils durchaus eigenständig und verschärfend bekräftigen.

Die riesige Mehrheit der in Nationalstaaten gefangenen und voneinander abgesonderten Menschen, v.a. die von Kapitaleigentümern und -managern sowie der politischen Klasse beherrschten Lohnabhängigen denken und empfinden national oder nationalistisch. Sie identifizieren sich rückhaltlos (trotz mancher Kritik) mit dem Zwangsverhältnis, das sowohl in ihrer Lohnabhängigkeit als auch in ihrem Staatsbürgertum verankert ist. Selbstverständlich (im Wortsinne) haben sie aber keinen Begriff von diesem doppelten Zwangsverhältnis, nehmen es auch gar nicht als ein solches wahr, sondern wehren jeden Hinweis darauf als mindestens übertrieben, meist aber als grundsätzlich falsch ab. Kritik am kapitalistischen Zwangsverhältnis wird als Neiddebatte abgewehrt und Kritik am nationalstaatlichen Zwangsverhältnis als Vaterlandsverrat.

Grundiert wird diese Bewusstseinsform durch Waren-, Kapital- und Geldfetisch einerseits und durch identifikatorisches Zugehörigkeitsgefühl zur Nation als Kompensation der Bedeutungslosigkeit im unbegriffenen Beherrschtsein. So fungieren Lohnabhängige nicht als selbstständige Wesen, sondern als Firmenangehörige und Staatsbürger, die Kapital- und Nationalstaatsinteressen vertreten, als seien es ihre eigenen. Dem Kapital und Staat dienen sie mit ihrer Arbeitskraft und ihrem Leben, das schrittweise verbraucht wird, und dem Staat dienen sie im Kriegsfall unmittelbar mit ihrem Leben. Kapital- und Nationalstaatsinteressen bilden dabei keinen Gegensatz, sondern eine Einheit in der Herrschaftsform.

Das Unbegriffene drückt sich v.a. darin aus, dass kapitalistischer und nationalstaatlicher Konkurrenzkampf personalistisch und privatistisch verdreht aufgefasst und interpretiert wird. Wer physisch als erster zuschlägt (wie in einer Kneipenschlägerei) und einen Krieg anfängt ist im Unrecht, ist der bzw. das Böse. Aktuell z.B. Putin. Oder umgekehrt, wer zuschlägt und einen Krieg führt, ist wegen der Vorgeschichte nicht unbedingt schuldig (wie nach einer schwierigen Kindheit). Aktuell z.B. die NATO-Osterweiterung als Vorgeschichte. Geostrategische Konflikte und daraus entstehende Kriege werden völlig untauglich mit individuellen Konflikten gleichgesetzt und auf dieser falschen Interpretationsebene bewertet. Dabei ist es besonders wichtig, persönlich Schuldige auszumachen (aktuell v.a.) oder eben umgekehrt, niemanden für schuldig halten zu wollen.

Verschärft wird diese unvernünftige Sicht auf die Dinge durch eine unterbestimmte Informationslage, was interessanterweise sowohl für private als auch für internationale Konflikte gilt. Aber auch das wird von den wenigsten als Manko ihrer Bewertungen wahrgenommen, sie finden blindwütig immer genau die Informationen, die in ihre Bewertung passt, die bereits nach kurzer Wahrnehmung (bereits ebenfalls gefilterter) Informationen feststeht und nur noch mit weiteren Informationen unterfüttert wird, die zu dieser Bewertung passen.

Alles das (was hier nur angedeutet werden kann) verhindert die Suche nach der strukturell-systemischen "Schuldigkeit" und befördert die Suche nach persönlich Schuldigen oder nach pauschaler Schuldlosigkeit.
Beispiel 1: Die hohen Benzinpreise sind nicht den Möglichkeiten des Kapitalverhältnisses geschuldet, sondern der persönlichen Gier einiger Mineralölkonzernbosse.
Beispiel 2: Der Russland-Ukraine-Krieg ist nicht der kapitalistisch-nationalstaatlich-bündnispolitisch generierten geostrategischen Konfliktlage geschuldet, sondern wahlweise Putin/Russland oder Biden/USA oder der NATO (die wie eine Person erscheint).

Hier im Forum prallen diese beiden untauglichen Erklärungsversuche unversöhnlich aufeinander und werden nur ab und zu von Erklärungsansätzen wie meinem hier vorgelegten unterbrochen. Wahrscheinlich werden sich nun beide Fraktionen auf diese störende Unterbrechung stürzen und exakt auf dem von mir angedeuteten Diskussionshintergrund als völlig abwegig geißeln. Vielleicht aber ....

Kurz, auf der Grundlage meiner Überlegungen, die ich selbstverständlich auf den Schultern zahlreicher Veröffentlichungen stehend formuliert habe (nicht nur der oben genannten), gibt es keine Probleme, gleichzeitig gegen Putin/Russland, Selenskij/Ukraine, Biden/USA, Scholz/Deutschland, v.d Leyen/EU usw. usw. zu argumentieren.

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