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  • Raumflieger

432 Beiträge seit 12.08.2024

Verlässliche Zahlen sind nicht zu bekommen.

Vornweg: dieser Beitrag wird nicht "schön". Hier rechne ich mit Zahlen, aber hinter jeder Zahl steht ein Kriegsopfer, entweder entstellt oder getötet. Auf eine Wertung verzichte ich bewusst, außer einer: "Krieg ist scheiße."

Ich zitiere mal die Textstelle:

Laut einer vertraulichen ukrainischen Schätzung von Anfang des Jahres seien 80.000 ukrainische Soldaten gefallen und 400.000 verwundet worden, so das WSJ. Westliche Geheimdienste schätzen die russischen Verluste noch höher ein: bis zu 200.000 Tote und rund 400.000 Verwundete auf russischer Seite. Doch keine dieser Zahlen lässt sich derzeit seriös verifizieren.

Immerhin wird hier mit der nötigen journalistischen Sorgfalt gearbeitet: es wird die Quelle genannt (ukrainische Schätzung) und auch gleich hinterhergeschoben, dass die Zahlen vermutlich nicht der Realität entsprechen. Ich werde dennoch mal versuchen, die Zahlen einzuordnen.

Wer sie noch nicht kennt, auch gleich die Kürzel für Gefallene, Verwundete usw.:
KIA = Killed in Action
WIA = Wounded in Action
MIA = Missing in Action
POW = Prisoner of War

Ukrainische Verluste: 80.000 KIA, 400.000 WIA. kA zu MIA und POW
Russische Verluste: 200.000 KIA, 400.000 WIA, kA zu MIA und POW

Auch Kriegsgefangene (POW) und Vermisste (MIA) sind Verluste. Da die aber nicht aufgeführt werden, erhalten wir kein vollständiges Bild. Was bleibt sind 480.000 Verluste für die Ukraine zu 600.000 Verlusten für Russland.
Und genau das glaube ich nicht. Die Dimensionen insgesamt stimmen annähernd, aber ich denke eher, dass wir von 600.000 Verlusten für die Ukraine zu gut 400.000 Verlusten für Russland ausgehen müssen, also das Bild "gedreht". Hintergrund dafür ist der nach wie vor relativ geringe Einsatz russischer Truppen in der Ukraine (absolut und relativ zur potentiellen Armeegröße Russlands gesehen), während die Ukraine inzwischen tief ins Reserve-Kontingent greifen muss, um auch nur kleinere Offensiven durchführen zu können, wie etwa die bei Kursk.

Im Jahr 2023 gab es eine großangelegte Offensive der Ukrainer, die allerdings außer einigen Etappenerfolgen keine strategische Wende einbrachte und starke eigene Verluste zur Folge hatte. Bisweilen war das Verlustverhältnis 8 zu 1 zu Ungunsten der Ukraine im letzten Jahr. Allerdings hat auch Russland stellenweise nur sehr verlustreich strategische Siege verbuchen können, so dass sich hier ggf. die Verlustverhältnisse annähernd ausgleichen könnten, jedenfalls punktuell.

Die nächsten zwei Textstellen stehen auch im Artikel nebeneinander:

Russland leidet auch unter den demografischen Folgen des Krieges. Über 600.000, meist junge und gut ausgebildete Russen, sind seit Kriegsbeginn ins Ausland geflohen. Dies verschärft den ohnehin bestehenden Arbeitskräftemangel, hauptsächlich in Sibirien und im Fernen Osten, die sich rapide entvölkern.

Die Folgen für die Ukraine sind verheerend. Von ehemals 48 Millionen Einwohnern im Jahr 2001 schrumpfte die Bevölkerung in den von Kiew kontrollierten Gebieten auf geschätzte 25 bis 27 Millionen. Neben Kriegsverlusten und Flüchtlingen ist auch die Geburtenrate auf den niedrigsten Stand aller Zeiten gesunken. In der ersten Hälfte dieses Jahres starben dreimal so viele Menschen, wie geboren wurden.

Die lass ich mit einer Kunstpause wirken:

...

...

Russland hat 600.000 Menschen durch "Auswanderung" verloren. Es sollen vorwiegend junge Menschen sein. Nun muss man bedenken, dass in Russland Teilmobilisierung herrscht, aber nach wie vor auch auf Freiwilligkeit gesetzt wird. Das heißt, die Grenzen sind grundsätzlich nicht verschlossen. Wer keinen Einberufungsbescheid in den Händen hält, kann also unbeschadet die Grenzen überschreiten und auswandern. Da die jungen Menschen nunmal als Nächstes an der Reihe sind, wenn eine weitere Mobilisierungswelle veranlasst wird, versuchen jene, die nicht am Krieg teilnehmen wollen, das Land zu verlassen, bevor sie dazu verpflichtet werden. Ein für mich als Kriegsdienstverweigerer ein absolut nachvollziehbares Verlangen, sich dem Kriege entziehen zu wollen.

In der Ukraine gibt es aber schon effektiv seit Kriegsbeginn diese "Freiwilligkeiten" nicht mehr. An den Grenzen wurden wehrfähige Männer festgehalten und konnten nur ausreisen, wenn sie hohe Gelder bezahlt haben. Ob Korruption oder gesetzlich, will ich nicht bewerten, kann ich nicht bewerten. Geblieben sind die, die sich das Ausreisegeld nicht leisten konnten. Inzwischen muss die ukrainische Staatsführung immer stärker auf Reservisten älteren Jahrgangs zurückgreifen, um die Lücken zu schließen. An der Stelle sei gesagt, dass unmittelbar vor dem Krieg die Ukraine über ein Heer aus 250.000 Mann und 800.000 Reservisten verfügte, während Russland mit rund 100.000 - 150.000 Mann die Grenzen überschritt und den so genannten "Sondereinsatz" startete.

Vor Kriegsausbruch lebten 48M Menschen in der Ukraine, jetzt sind es nur noch bis zu 27M in den von Kiew kontrollierten Gebieten. Das heißt, es gibt eine Lücke von mindestens 21M Ukrainern. Davon sind vermutlich 2 - 3 Millionen in ein sicheres Land geflohen, dann verbleiben noch rund 18M Menschen. Die müssten dann aber alle in der Ostukraine leben? Wieviele Menschen haben denn auf dem von den Russen besetzten Gebieten gelebt vor Kriegsbeginn?

In den Oblasten Donezk und Luhansk leben rund 6,2 Millionen Menschen. Das ist aber nur ein Drittel der eben ermittelten Zahl von 18M Menschen, deren Verbleib "unbekannt" ist. Russland hat dann noch Gebiete in der Südostukraine bis zur Krim eingenommen, leben da etwa die restlichen 12 Millionen? Ich finde auf die schnelle leider keine Karte, die mir die Bevölkerungsverteilung nach Verwaltungsbezirken darstellt, aber sicherlich gibt es die.

Aber eigentlich ist das auch gar nicht SO relevant. Denn die eigentliche Katastrophe wird ja gar nicht benannt. Die Kriegsverluste sind eine Sache, die Zahlen sind, wenn auch nicht verlässlich, vermutlich einigermaßen korrekt in ihrer Dimension. Wie gesagt, ich tausche im Kopf die ukrainischen und russischen Verluste auf, weil sonst das Kriegsgeschehen nicht dazu passen würde (und Russland sich auf dem Rückzug befände).
Nein.
Das eigentliche Thema ist, dass seit Kriegsbeginn aufgrund von Fluchtbewegung und Besatzung die ukrainische Bevölkerung beinahe halbiert worden ist. Von 48M Menschen sind noch bis zu (!) 27M Ukrainerinnen und Ukrainer übrig in dem von der ukrainischen Hauptstadt kontrollierten Gebiet. Die pessimistischere Schätzung von 25M rückt bereits den Bevölkerungsverlust nahe an die 50%-Grenze: 48% der ukrainischen Bevölkerung ging in den Kriegswirren verloren durch Flucht, Besatzung oder Kriegsverluste.

Das ist doch die eigentliche Nachricht: Das ukrainische Volk stirbt! Ein Verlust von fast 50% innerhalb von zweieinhalb Jahren lässt jede Gesellschaft zusammenbrechen. Jeder kennt jemanden, der geflohen ist oder in der Besatzungszone lebt oder im Krieg umkam. Es gibt nicht eine Familie, die nicht irgendeinen Verlust zu betrauern hat. Die verbliebenen Ukrainer müssen die Wirtschaft am Laufen halten und in einem Krieg kämpfen.

Zum Vergleich: als 1945 der 2. Weltkrieg aus war, hatte die Sowjetunion den größten Blutzoll getragen: 10 Millionen Rotarmisten aus insgesamt 24 Millionen sowjetischen Bürgern. Insgesamt lebten 1939 170M Menschen in der Sowjetunion, d.h. die Union verlor rund 14% ihrer Bevölkerung infolge des Krieges.
Das Dt. Reich fing 1939 den Krieg mit rund 69M Menschen an und hat laut der u.g. Quelle nach dem Krieg noch immer rund 69M Einwohner. Das lässt sich erklären durch Vertriebene, Besatzungstruppen usw. Die Verluste selber werden mit 5,5 bis 6,9 Millionen Kriegsopfer (Soldaten, Zivilisten, Verfolgte) angegeben, das entspricht dann etwa einem Verlust von 8 - 10% der Gesamtbevölkerung.

Q: https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61532/bevoelkerungsentwicklung/

Nur um das Verhältnis nochmal herzustellen: die Ukraine hat in zweieinhalb Jahren fast so viele Menschen durch Flucht und Besatzung eingebüßt, wie die gesamte Sowjetunion in der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts, nämlich dem 2. Weltkrieg. Die Ukraine hat relativ gesehen dreieinhalb bzw. fünfmal so viele Menschen verloren, wie die Sowjetunion oder das Dt. Reich. Bedenkt man, mit welcher Härte der 2. Weltkrieg geführt wurde, kann man sich eigentlich noch im Kopf die Katastrophe begreiflich machen, die über die ukrainische Bevölkerung hereingebrochen ist?

Das sollte die eigentliche Nachricht sein, nicht (nur) die Kriegsverluste. Die Ukraine geht kaputt als Staat, als Gesellschaft. Wann, wenn nicht jetzt, sollte verhandelt werden?

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (19.09.2024 11:22).

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