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  • Tobias Kern

mehr als 1000 Beiträge seit 04.07.2015

Du meinst so etwas wie Magdeburger Modell?

Magdeburger Modell hatten die schon in Sachsen-Anhalt.

Der Wahlabend des 26. Juni 1994. In Sachsen-Anhalt hatten die Bürger zum zweiten Mal seit 1990 eine Landesregierung gewählt. Im Landtag in Magdeburg feierten die Christdemokraten ihren freilich nur hauchdünnen Sieg. Sie waren mit 34,4 Prozent der Wählerstimmen stärkste Partei geworden. Die SPD erreichte 34,0, die PDS 19,9 und Bündnis'90/Die Grünen fünf Prozent. Christoph Bergner, der das Amt des Ministerpräsidenten ein halbes Jahr zuvor von seinem glücklosen Vorgänger Werner Münch übernommen und die CDU aus einem Umfragetief geführt hatte, nahm erste Glückwünsche entgegen. Er wähnte sich bereits als neuer Regierungschef. Zur gleichen Zeit tanzte SPD-Spitzenkandidat Reinhard Höppner mit seiner Frau auf der Wahlparty seiner Partei und ließ sich als neuer Ministerpräsident bejubeln.
SPD wollte an die Macht in Magdeburg

Tags darauf erfuhr CDU-Mann Bergner, dass er keineswegs in die Magdeburger Staatskanzlei zurückkehren könne. Reinhard Höppner nämlich lehnte Koalitionsgespräche mit der CDU rundweg ab. Stattdessen, so verkündete er, wolle er mit den Grünen eine Minderheitsregierung bilden, toleriert von der PDS. "Höppner hat sich aus zwei Gründen für dieses neue Format entschieden", erklärt der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann. "Zum einen war das Verhältnis zwischen ihm und Christoph Bergner zerrüttet. Zum anderen hat sich für die vormals oppositionelle SPD damit die Möglichkeit ergeben, nicht nur in die Regierung einzutreten, sondern das Amt des Ministerpräsidenten selbst übernehmen zu können."

Eine Zusammenarbeit mit der SED-Nachfolgepartei hatten bis zu diesem Zeitpunkt alle demokratischen Parteien strikt ausgeschlossen. Sogar Höppner selbst. Eine Tolerierung durch die einstige DDR-Staatspartei wird es, so Höppner im Wahlkampf, "mit mir nicht geben". Christoph Bergner warf seinem Kontrahenten nun Wahlbetrug vor. Höppner reagierte gelassen: Das Wählerwort habe eindeutig eine "Mehrheit links von der CDU" ergeben.

Das "Magdeburger Modell"

Einen Monat später, am 27. Juli 1994, wurde Reinhard Höppner dann tatsächlich zum Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt gewählt. Für seine Wahl benötigte er die Stimmen der PDS-Abgeordneten theoretisch nicht. Im dritten Wahlgang genügte ihm die einfache Mehrheit. Die meisten PDS-Abgeordneten enthielten sich. Höppners Zusammengehen mit der PDS stellte jedoch einen Tabubruch dar. Entsprechend harsch fiel die Kritik aus. Bundeskanzler Helmut Kohl etwa sah den "Konsens aller Demokraten" von der SPD verraten und wetterte gegen die "rotlackierten Faschisten" im Landtag. "Dieses Bündnis passte aber auch der SPD unter Gerhard Schröder nicht ins Konzept", sagt Everhard Holtmann. "Die Magdeburger SPD hat sich dennoch durchgesetzt."

Für Rudolf Scharpings Niederlage gegen Helmut Kohl bei der Bundestagswahl im Herbst 1994 wurde dann jedenfalls auch Höppner von seinen Genossen von der Bundes-SPD verantwortlich gemacht.

Indes wollte niemand darauf wetten, dass Höppners "Magdeburger Modell" angesichts der Spannungen zwischen den beiden Koalitionsparteien und den "Schmuddelkindern" von der PDS sowie der Fundamentalopposition der CDU vier Jahre halten würde. Die Zusammenarbeit zwischen den drei Parteien, stellte der damalige Grünen-Chef Jürgen Trittin bei einem Besuch in Magdeburg jedoch fest, funktioniere im Alltagsgeschäft "fast schon erschreckend normal". "Der Magdeburger Dom steht noch", titelte die "tageszeitung" 1996 amüsiert. Petra Sitte, einstige PDS-Fraktionschefin in Magdeburg, meinte: "Wir haben dem Osten Aufmerksamkeit verschafft, wenn auch mit einem kontroversen Ausgangspunkt." Dass diese ungewöhnliche Zusammenarbeit überhaupt möglich war, hat unter anderem damit zu tun, das alle beteiligten Personen aus Sachsen-Anhalt stammten. Man kannte sich, teils schon jahrelang. "Anders als in anderen Sektoren des politisch-administrativen Systems im Osten Deutschlands hat in Sachsen-Anhalt ein Elitentransfer von West nach Ost so gut wie nicht stattgefunden", sagt Politikwissenschaftler Holtmann.

Das "Magdeburger Modell" wurde 1998 sogar fortgeführt

Die Minderheitsregierung von Reinhard Höppner hielt tatsächlich bis zur nächsten Wahl. 1998 konnte die SPD sogar einen leichten Stimmenzuwachs verzeichnen, während die CDU auf 22 Prozent abstürzte. Allerdings verlor die SPD ihren Koalitionspartner, weil den Grünen der Einzug ins Parlament nicht mehr gelang. Höppner, der sich vor der Wahl klar gegen eine Koalition mit der CDU ausgesprochen hatte, bekam von der Berliner Parteizentrale dennoch die Anweisung, mit der CDU zusammenzugehen. Doch die Verhandlungen scheiterten erwartungsgemäß. Angeblich an der Frage, wie man mit der rechten DVU umgehen solle. Höppner, dessen SPD lediglich 40,5 Prozent der Landtagssitze auf sich vereinen konnte, votierte erneut für eine Minderheitsregierung, toleriert von der PDS. Und nun wurde er sogar mit den Stimmen der PDS zum Ministerpräsidenten gewählt.

Es sei die "schmutzigste Wahl in einem deutschen Parlament seit 1933" gewesen, schimpfte der damalige CSU-Generalsekretär Bernd Protzner pflichtschuldig. Insgesamt aber waren die Reaktionen weitaus gelassener als noch 1994. Das "Magdeburger Modell" habe Deutschland verändert, hieß es, und ganz nebenbei den Sozialdemokraten eine Option für parlamentarische Mehrheiten im Osten verschafft. "Die PDS ist eine ganz normale Partei", befand jedenfalls Reinhard Höppner. "Mit diesem Tolerierungsbündnis war Sachsen-Anhalt ein bundespolitischer Vorreiter, denn es ebnete den Weg für rot-rote Koalitionen in anderen Bundesländern und für einen linken Ministerpräsidenten in Thüringen", schreibt Hendrik Träger in "Politik und Regieren in Sachsen-Anhalt".
2002: Ende des "Magdeburger Modells"

Dennoch beschlossen beide Parteien, genervt von den ständigen Debatten über die angeblich instabilen Magdeburger Verhältnisse, ihre "wilde Ehe" nach der Landtagswahl 2002 zu beenden. "Jetzt ist Schluss", zürnte SPD-Fraktionschef Jens Bullerjahn. Die SPD zog ohne klare Koalitionsaussage in den Wahlkampf. Die Umfrageinstitute prognostizierten ihr immerhin ein Ergebnis knapp unterhalb der absoluten Mehrheit. Doch es kam anders: Höppners SPD verlor fast 16 Prozent der Stimmen. Die Sieger hießen Wolfgang Böhmer von der CDU, die fast 38 Prozent errang, und Cornelia Pieper von der FDP. "Insgesamt war das 'linke Lager' in Sachsen-Anhalt nicht mehr mehrheitsfähig", befand Sven Thomas in "Das Ende des 'Magdeburger Modells'". "Zwei Gründe lassen sich dafür erkennen. Zum Ersten riss der Kontakt zur politischen 'Mitte' ab. Zum Zweiten ließ die Mobilisierungskraft 'linker Visionen' deutlich nach. 160.000 SPD/PDS-Wähler blieben den Wahlurnen fern. Erstmals seit 1994 errang das 'bürgerliche Lager' in Sachsen-Anhalt wieder eine eigene Mehrheit." Eine "Abwahl des 'Magdeburger Modells'" aber hatte keineswegs stattgefunden, schreibt Sven Thomas: "Die SPD in Sachsen-Anhalt erlitt lediglich eine 'normale' Wahlniederlage." CDU und FDP koalierten, Wolfgang Böhmer wurde neuer Ministerpräsident.
https://www.mdr.de/zeitreise/sachsen-anhalt-geschichte-magdeburger-modell100.html

Wenn man das diesmal mit der AfD machen würde währe die Afd in 5-10 Jahren eine "ganz normale" Partei. Und was das Suchen von Mehrheiten angeht - dann schau doch einfach mal rüber nach Thüringen. Da regiert die ganz, ganz große Minderheitenkoalition um die AfD zu isolieren. Genau solche Verhältnisse -weder vor noch zurück - würden auch in Sachsen-Anhalt Einzug halten. Kurzum: Ich bin für stabile Verhältnisse, eine Regierung mit Mehrheit, keine Minderheitenexperimente.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (09.06.2021 17:14).

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