Das waren keine neuen Ideen. Es waren die Patentrezepte einer früheren Generation von präkeynesianischen Liberalen, die mit den neoklassischen Lehren der freien Marktwirtschaft aufgewachsen waren. Die Fachleute kannten diese Thesen in jüngerer Zeit aus den Werken von Hayek und seinem amerikanischen Schüler Milton Friedman. Vielerorts verfehlte diese Polemik nicht ihre Wirkung auf junge Wähler, die keine unmittelbaren Erfahrungen mit den verhängnisvollen Auswirkungen solcher Ansichten hatten - waren diese doch zum letztenmal vor einem halben Jahrhundert tonangebend gewesen. Jedoch nur in Großbritannien waren Hayek, Friedman und ihre politischen Schüler in der Lage, sich der Wirtschaftspolitik zu bemächtigen und einen radikalen Wandel in der politischen Kultur des Landes zu bewirken.
Als Volkswirtschaft war das thatcherisierte Großbritannien also leistungsfähiger geworden. Doch als Gesellschaft erlebte es eine Kernschmelze mit katastrophalen langfristigen Folgen. Durch Geringschätzung und Abwicklung aller in öffentlicher Hand befindlichen Ressourcen, durch die lautstarke Propagierung einer individualistischen Ethik, die einzig und allein quantifizierbare Werte gelten ließ, fügte Margaret Thatcher dem Gefüge des öffentlichen britischen Lebens schweren Schaden zu. Bürger mutierten zu Aktienbesitzern oder »Anlegern«, ihre Beziehung untereinander und zur Gesamtheit wurde in Aktivposten und Ansprüchen statt in Verdiensten oder Pflichten gemessen. Da sich von den Busunternehmen bis zu den Stromversorgern alles in den Händen konkurrierender Privatfirmen befand, wurde der öffentliche Raum zum Marktplatz.
Judt, Tony: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, Carl Hanser Verlag, München, 2006
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