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  • crumar

mehr als 1000 Beiträge seit 08.03.2007

Nordstream 1 und die große "Vergesslichkeit"

Man kann den westlichen Medien nun nicht vorwerfen, jede westliche Propaganda zu unterstützen, zumal, wenn sie einem grünen Politiker nützt.
Der Fokus auf NS1 ist eine Verengung der Debatte, die auch ohne die Existenz von NS2 existiert.

Am 23.5. berichtete die "Legal Tribune" (folgend kursiv von mir): "Die polnische Regierung hat beschlossen, ihren schon seit 1993 geltenden Gasliefervertrag mit Russland zu kündigen. (...) Wie PAP unter Berufung auf die beiden Regierungsvertreter weiter erläuterte, fiel die Entscheidung der polnischen Regierung bereits in einer Kabinettssitzung am 13. Mai. (...)

PAP wies darauf hin, dass die Kündigung der polnisch-russischen Vereinbarung nicht nur Gaslieferungen an Polen betreffe, sondern auch den Gastransit durch die Jamal-Gasleitung weiter nach Deutschland. Diese Verbindung wurde aber zuletzt ohnehin vor allem in umgekehrter Richtung genutzt, um Gas aus Deutschland nach Polen zu liefern. "
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/polen-kuendigung-liefervertrag-erdgas-russland-ukraine-konflikt-pipeline-jamal/

Während Deutschland also großzügig auf die Lieferung per Jamal verzichtete, wurde Polen via Deutschland (und damit die Ukraine, was gerne ebenfalls "vergessen" wird) revers mit Gas versorgt, welches sich damit plötzlich in "europäisches Gas" verwandelt hatte.
Das ermöglichte es polnischen Politikern zu heucheln, man habe sich unabhängig von russischem Gas gemacht und im anti-deutschen Triumphalismus zu verkünden, IHRE Gasspeicher seien bereits voll. Zwei Tritte in den deutschen Hintern auf einmal von unserem "EU-Partner".

Die Ukraine wiederum hatte bereits vorher, nämlich am 11.5., "den Transit von russischem Gas nach Europa teilweise gekappt." So berichtete der MDR: https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/gas-transit-ukraine-luhansk-gestoppt-100.html

Und weiter: "Der ukrainische Gasnetzbetreiber OGTSU hatte zuvor mitgeteilt, dass im Gebiet Luhansk ab Mittwochmorgen kein Gas mehr in Richtung Westen weitergeleitet werde. (...) Es könnten bis zu 32,6 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag wegfallen – fast ein Drittel der täglich über die Ukraine nach Europa transportierten Höchstmenge."

Das schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Auf der einen Seite die Gasversorgung der Bevölkerung in Lugansk kappen und ein bisschen "Nachdruck" in die Forderung nach schweren Waffen, Geld, Krediten usw. legen.

Nachdem man die eigene, deutsche Bevölkerung bereits über die vorhergehenden reversen Lieferungen nach Polen und in die Ukraine täuschte und letztere zur Verteidigerin "europäischer Werte" aufblähte, konnte man dieser schwerlich Nötigung vorwerfen. Darum hat es sich jedoch tatsächlich gehandelt.

D.h. bei der Verengung der Debatte auf NS1 geht es darum, Halb- und Unwahrheiten mit weiteren Halb- und Unwahrheiten zuzudecken.

Diese Kombination aus Täuschung und Selbsttäuschung geht mit den "Preisdeckeln" für russisches Gas und Öl nun auf ein höheren Stufe weiter.
Denn reguliert werden sollen nicht die Spekulanten an den "Börsen", die für die Verkaufspreise stehen, sondern deren Einkaufspreise.
D.h. "Marktpreise" sollen weiterhin gelten - aber nicht für Russland, sondern "nur" für die europäische Bevölkerung und Industrie.
Profitsicherung von heimischen Monopolen ist ein politisches Herzensanliegen.

Wenn man ein solches Diktat durchsetzen möchte, dann sollte man alternative Anbieter haben, die bereit sind, für diesen "gedeckelten" Preis (unterhalb des Marktpreises) zu liefern. Die existieren aber nicht.

Es ist also nicht nur eine hohle Geste, sondern sie beruht bereits auf einer grandiosen Selbstüberschätzung und Selbsttäuschung, die m.E. für unser derzeitiges politisches Personal kennzeichnend ist.

Die Sanktionen gegen Russland wurden schon Monate vor dem Kriegsausbruch festgelegt und für die intellektuelle Qualität des Personals (der "Experten" und Politiker) ist kennzeichnend, dass mögliche Auswirkungen auf die eigene Bevölkerung und Industrie gnadenlos unterschätzt, wenn nicht sogar verdrängt worden sind.
Der Wille "Russland zu schaden", das Land "zu ruinieren" und damit (wieder einmal) einen "regime change" einzuläuten war so dominant, dass man allen Ernstes meinte, diesen Wunschtraum per Dekret realisieren zu können.

Die Idee, diese "Experten" und Politiker hätten plötzlich den "Kontakt zur Realität verloren" ist falsch. Sie hatten ihn bereits jahre-, wenn nicht sogar jahrzehntelang nicht mehr. Kapitalistischer Neoliberalismus im Endstadium.

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