Man sollte es möglichst lesen, vor allem wegen der interessanten
Analyse der Situation im ersten Teil. Die "ZEIT" hat eine überaus
brauchbare, deutsche Übersetzung vorgelegt, die m.E. nur eine
handvoll kleinere Fehler enthält.
> http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/russische-einmischung-ukraine-dokument-gazeta-deutsche-uebersetzung
Zur Datierung des Dokuments.
- Die "Nowaja Gazeta" meint, das Dokument müsse nach dem 4.2.2014
verfasst worden sein, weil dieses Datum im Text rückschauend erwähnt
wird.
(Die ZEIT übersetzt: "... nach den vorgezogenen
Präsidentschaftswahlen auftauchen könnten, die Janukowitsch für den
4. Februar des kommenden Jahres ausgerufen hat."
Fehler der ZEIT. Janukowitsch hat die vorgezogenen
Präsidentschaftswahlen "AM 4. Februar diesen Jahres" verkündet. Im
Original ist es richtig.)
- "Brisanet" hat auf die folgende Passage hingewiesen:
"Die Zahl der Toten während der Unruhen in der ukrainischen
Hauptstadt liefern einen direkten Beweis dafür, dass ein Bürgerkrieg
unvermeidlich wird ..."
Eine bemerkenswert hohe Zahl von Toten gab es jedoch erst ab dem
18.2.
> https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_people_killed_during_Euromaidan
- Außerdem gibt es im Text noch diese Passage:
"Die jüngsten Entwicklungen in der Westukraine (in den Regionen Lwiw,
Wolyn, Iwano-Frankiwsk), wo die Opposition ihre Unabhängigkeit von
der Zentralregierung in Kiew erklärt hat, schaffen die Möglichkeit,
dass auch die östlichen Regionen zunächst ihre eigene Souveränität
erklären, und sich dann später zur Russischen Föderation hin
orientieren."
Die Gebietsadministration in Lwow wurde zwar schon am 23.1.2014
erstmals besetzt ...
> https://www.youtube.com/watch?v=-hdLcl-uP1w
... aber erst am 19.2. hat in Lwow "die Opposition [eine sog.
"Volksversammlung"] ihre Unabhängigkeit von der Zentralregierung in
Kiew erklärt", Polizei, Geheimdienst und Armee auf dem Gebiet der
Oblast Lwow aufgefordert, sich diesem Unabhängigkeitsorgan zu
unterstellen und noch am selben Abend damit begonnen, die genannten
Institutionen zu erobern.
> http://www.segodnya.ua/regions/lvov/narodnaya-rada-lvova-vzyala-na-sebya-upravlenie-oblastyu-496852.html
Deshalb kann das Papier m.E. nicht vor dem 19.2. fertiggestellt
worden sein.
Die Datierung des Dokuments hilft uns rückblickend auch dabei, zu
verstehen, was die Autoren schon beobachten konnten und wie sie das
resümieren.
Nehmen wir z.B. diese Schlüssel-Passage, deren Sinn mir beim ersten
Lesen nicht aufgegangen war:
"Verlauf und Ergebnis der Münchner Sicherheitskonferenz
(31.1.-1.2.2014) lassen hinreichend darauf schließen, dass die EU und
die USA einen Zerfall des Landes zulassen und eine solche Entwicklung
nicht einmal für außergewöhnlich halten. Das Konzept der EU, einen
großen osteuropäischen Staat "nach und nach" zu schlucken, wird nicht
nur von offiziellen Sprechern der EU öffentlich geäußert, sondern
findet auch Anhänger in den Reihen der ukrainischen Elite.
Wird sich Russland an dieser geopolitischen Intrige beteiligen?"
Was meinten die Autoren damit, dass die EU "einen großen
osteuropäischen Staat "nach und nach" schluckt"? Ganz einfach, die
Erstürmung der Gebietsadministrationen, der am 23.1. in Lwow begann
(oben verlinkt) und anschließend beinahe sämtliche Oblasten der West-
und Mittelukraine ergriff. Denn das waren ja schließlich die
pro-EU-Kräfte, die "proeuropäischen Separatisten".
Vermutlich haben russische Vertreter auf der Münchener
Sicherheitskonferenz mit EU-Vertretern darüber versucht zu sprechen
und die haben einfach mit den Schultern gezuckt. "So ist der
Volkswille eben".
Und also setzt am 19.2., als in Kiew schon die halbe Innenstadt
brennt, irgendeine russische Politplanergruppe dieses Papier auf.
Tenor: "Vielleicht sollten wir auch mal damit anfangen, etwas zu
tun?"
Grand Strategy:
Euroregion -> Föderalisierung -> Referendum -> Integration in die RF
Das ist eigentlich ein Programm für mehrere Jahre.
Nichts davon hat hingehauen; es lief ganz anders.
Warum?
Hier die Fehlannahmen:
"Präsident Viktor Janukowitsch ist ein Mensch geringer Moral und
Willenskraft, er hat Angst davor, den Präsidentenposten zu räumen,
und ist gleichzeitig bereit, die Silowiki (Geheimdienste, Armee usw.,
Anm. d. Red.) gegen die Garantie "einzutauschen", den
Präsidentenposten zu behalten und – falls er den Posten doch aufgeben
muss – Immunität zu bekommen. ... Laut lokalen Beobachtern wird
jeglicher Versuch eines Janukowitsch-Nachfolgers, Vertreter des
Innenministeriums und des Inlandsgeheimdienstes SBU für die
Niederschlagung des Maidan zu bestrafen, unweigerlich harte
Reaktionen hervorrufen."
Janukowitsch hat keine Immunität bekommen, sondern musste um sein
Leben laufen. Das galt ebenso für die erste Riege der
Staatsschutzstrukturen. "Berkut" ist einfach aufgelöst worden, deren
Angehörige mussten in Lwow auf einer Bühne öffentlich niederknien.
Wer sich weigerte ...
Innenministerium und SBU sind sofort gnadenlos gesäubert worden.
"Harte Reaktionen"? Daneben.
Auch die richtige Beobachtung, dass die EU "einen großen
osteuropäischen Staat "nach und nach" schluckt", hat die Autoren zu
falschen Folgerungen geführt. Das "nach und nach" hörte nämlich in
dem Moment auf, wo man in Kiew die Macht ergriffen hatte.
Unmittelbar nach dem Umsturz wurden ca. 400 Mann
"Maidan-Selbstverteidigung" in die Oblast Charkow beordert, um dort
für Ordnung zu sorgen. Man eroberte sofort die dortige
Gebietsadministration. (Die wurde von einem Charkower Mob am 1.3.2014
zurückerobert.)
Man übergab Kolomoisky die Oblast Dnepropetrowsk, um sie - by all
means necessary - einzunorden.
Das Massaker von Odessa entstammt ebenfalls diesem für die russischen
Planer unerwarteten Szenario der Übernahme einer feindlichen Region.
Die kremlnahen Planer haben offenbar die Konfliktbereitschaft des
Westens noch am 19.2. vollkommen unterschätzt. Sie gingen davon aus,
wahrscheinlich orientiert an den Vorgängen nach dem "orangenen
Maidan" 2004, dass die Putschisten sich mit der Macht in Kiew und
der West- und Mittelukraine zufrieden geben würden, darüber hinaus
jedoch irgendeine Form von Ausgleich anstreben würden.
Anders lässt sich m.E. nicht erklären, dass zu diesem Zeitpunkt das
langsame Szenario
Euroregion -> Föderalisierung -> Referendum -> Integration in die RF
vorgeschlagen wurde.
Die "ZEIT" und die "Nowaja Gazeta" können dieses Papier, das nicht
den Kreml entlarvt, nur deshalb unter eine falsche Überschrift
setzen, weil kaum noch jemand Texte lesen kann oder will.
P.S.
Die "Nowaja Gazeta" hat unter Punkt 1. Teile des Originaltextes
weggelassen. "Geschwärzt".
P.S. II
Die "Nowaja Gazeta" ist eine unabhängige Zeitung, soweit dieser
Ausdruck zutrifft, solange Presse ein Gewerbe ist. Sie nimmt eine
bestimmte politische Position ein, ist jedoch eine unabhängige
Zeitung.
Analyse der Situation im ersten Teil. Die "ZEIT" hat eine überaus
brauchbare, deutsche Übersetzung vorgelegt, die m.E. nur eine
handvoll kleinere Fehler enthält.
> http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/russische-einmischung-ukraine-dokument-gazeta-deutsche-uebersetzung
Zur Datierung des Dokuments.
- Die "Nowaja Gazeta" meint, das Dokument müsse nach dem 4.2.2014
verfasst worden sein, weil dieses Datum im Text rückschauend erwähnt
wird.
(Die ZEIT übersetzt: "... nach den vorgezogenen
Präsidentschaftswahlen auftauchen könnten, die Janukowitsch für den
4. Februar des kommenden Jahres ausgerufen hat."
Fehler der ZEIT. Janukowitsch hat die vorgezogenen
Präsidentschaftswahlen "AM 4. Februar diesen Jahres" verkündet. Im
Original ist es richtig.)
- "Brisanet" hat auf die folgende Passage hingewiesen:
"Die Zahl der Toten während der Unruhen in der ukrainischen
Hauptstadt liefern einen direkten Beweis dafür, dass ein Bürgerkrieg
unvermeidlich wird ..."
Eine bemerkenswert hohe Zahl von Toten gab es jedoch erst ab dem
18.2.
> https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_people_killed_during_Euromaidan
- Außerdem gibt es im Text noch diese Passage:
"Die jüngsten Entwicklungen in der Westukraine (in den Regionen Lwiw,
Wolyn, Iwano-Frankiwsk), wo die Opposition ihre Unabhängigkeit von
der Zentralregierung in Kiew erklärt hat, schaffen die Möglichkeit,
dass auch die östlichen Regionen zunächst ihre eigene Souveränität
erklären, und sich dann später zur Russischen Föderation hin
orientieren."
Die Gebietsadministration in Lwow wurde zwar schon am 23.1.2014
erstmals besetzt ...
> https://www.youtube.com/watch?v=-hdLcl-uP1w
... aber erst am 19.2. hat in Lwow "die Opposition [eine sog.
"Volksversammlung"] ihre Unabhängigkeit von der Zentralregierung in
Kiew erklärt", Polizei, Geheimdienst und Armee auf dem Gebiet der
Oblast Lwow aufgefordert, sich diesem Unabhängigkeitsorgan zu
unterstellen und noch am selben Abend damit begonnen, die genannten
Institutionen zu erobern.
> http://www.segodnya.ua/regions/lvov/narodnaya-rada-lvova-vzyala-na-sebya-upravlenie-oblastyu-496852.html
Deshalb kann das Papier m.E. nicht vor dem 19.2. fertiggestellt
worden sein.
Die Datierung des Dokuments hilft uns rückblickend auch dabei, zu
verstehen, was die Autoren schon beobachten konnten und wie sie das
resümieren.
Nehmen wir z.B. diese Schlüssel-Passage, deren Sinn mir beim ersten
Lesen nicht aufgegangen war:
"Verlauf und Ergebnis der Münchner Sicherheitskonferenz
(31.1.-1.2.2014) lassen hinreichend darauf schließen, dass die EU und
die USA einen Zerfall des Landes zulassen und eine solche Entwicklung
nicht einmal für außergewöhnlich halten. Das Konzept der EU, einen
großen osteuropäischen Staat "nach und nach" zu schlucken, wird nicht
nur von offiziellen Sprechern der EU öffentlich geäußert, sondern
findet auch Anhänger in den Reihen der ukrainischen Elite.
Wird sich Russland an dieser geopolitischen Intrige beteiligen?"
Was meinten die Autoren damit, dass die EU "einen großen
osteuropäischen Staat "nach und nach" schluckt"? Ganz einfach, die
Erstürmung der Gebietsadministrationen, der am 23.1. in Lwow begann
(oben verlinkt) und anschließend beinahe sämtliche Oblasten der West-
und Mittelukraine ergriff. Denn das waren ja schließlich die
pro-EU-Kräfte, die "proeuropäischen Separatisten".
Vermutlich haben russische Vertreter auf der Münchener
Sicherheitskonferenz mit EU-Vertretern darüber versucht zu sprechen
und die haben einfach mit den Schultern gezuckt. "So ist der
Volkswille eben".
Und also setzt am 19.2., als in Kiew schon die halbe Innenstadt
brennt, irgendeine russische Politplanergruppe dieses Papier auf.
Tenor: "Vielleicht sollten wir auch mal damit anfangen, etwas zu
tun?"
Grand Strategy:
Euroregion -> Föderalisierung -> Referendum -> Integration in die RF
Das ist eigentlich ein Programm für mehrere Jahre.
Nichts davon hat hingehauen; es lief ganz anders.
Warum?
Hier die Fehlannahmen:
"Präsident Viktor Janukowitsch ist ein Mensch geringer Moral und
Willenskraft, er hat Angst davor, den Präsidentenposten zu räumen,
und ist gleichzeitig bereit, die Silowiki (Geheimdienste, Armee usw.,
Anm. d. Red.) gegen die Garantie "einzutauschen", den
Präsidentenposten zu behalten und – falls er den Posten doch aufgeben
muss – Immunität zu bekommen. ... Laut lokalen Beobachtern wird
jeglicher Versuch eines Janukowitsch-Nachfolgers, Vertreter des
Innenministeriums und des Inlandsgeheimdienstes SBU für die
Niederschlagung des Maidan zu bestrafen, unweigerlich harte
Reaktionen hervorrufen."
Janukowitsch hat keine Immunität bekommen, sondern musste um sein
Leben laufen. Das galt ebenso für die erste Riege der
Staatsschutzstrukturen. "Berkut" ist einfach aufgelöst worden, deren
Angehörige mussten in Lwow auf einer Bühne öffentlich niederknien.
Wer sich weigerte ...
Innenministerium und SBU sind sofort gnadenlos gesäubert worden.
"Harte Reaktionen"? Daneben.
Auch die richtige Beobachtung, dass die EU "einen großen
osteuropäischen Staat "nach und nach" schluckt", hat die Autoren zu
falschen Folgerungen geführt. Das "nach und nach" hörte nämlich in
dem Moment auf, wo man in Kiew die Macht ergriffen hatte.
Unmittelbar nach dem Umsturz wurden ca. 400 Mann
"Maidan-Selbstverteidigung" in die Oblast Charkow beordert, um dort
für Ordnung zu sorgen. Man eroberte sofort die dortige
Gebietsadministration. (Die wurde von einem Charkower Mob am 1.3.2014
zurückerobert.)
Man übergab Kolomoisky die Oblast Dnepropetrowsk, um sie - by all
means necessary - einzunorden.
Das Massaker von Odessa entstammt ebenfalls diesem für die russischen
Planer unerwarteten Szenario der Übernahme einer feindlichen Region.
Die kremlnahen Planer haben offenbar die Konfliktbereitschaft des
Westens noch am 19.2. vollkommen unterschätzt. Sie gingen davon aus,
wahrscheinlich orientiert an den Vorgängen nach dem "orangenen
Maidan" 2004, dass die Putschisten sich mit der Macht in Kiew und
der West- und Mittelukraine zufrieden geben würden, darüber hinaus
jedoch irgendeine Form von Ausgleich anstreben würden.
Anders lässt sich m.E. nicht erklären, dass zu diesem Zeitpunkt das
langsame Szenario
Euroregion -> Föderalisierung -> Referendum -> Integration in die RF
vorgeschlagen wurde.
Die "ZEIT" und die "Nowaja Gazeta" können dieses Papier, das nicht
den Kreml entlarvt, nur deshalb unter eine falsche Überschrift
setzen, weil kaum noch jemand Texte lesen kann oder will.
P.S.
Die "Nowaja Gazeta" hat unter Punkt 1. Teile des Originaltextes
weggelassen. "Geschwärzt".
P.S. II
Die "Nowaja Gazeta" ist eine unabhängige Zeitung, soweit dieser
Ausdruck zutrifft, solange Presse ein Gewerbe ist. Sie nimmt eine
bestimmte politische Position ein, ist jedoch eine unabhängige
Zeitung.