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Re: Die Sanktionen verfehlen ihr Ziel, weil ...

Captain Data schrieb am 14.09.2022 09:33:

... sie nicht nur grundgesetzwidrig sind (siehe: Verbot von Zwangsarbeit)

Nein, das ist Unsinn. Dazu hat das BVG bereits mehrmals geurteilt.

und die ohnehin schon lt. Verfassungsgericht zu niedrige Existenzgrundsicherung weiter einschränken.

Schon wieder falsch. Nirgendwo hat das BVG geurteilt, dass die Sätze zu niedrig wären. Im Gegenteil, das BVG hat 2019 in seinem Urteil zu den Hartz-Sanktionen ausgeführt, dass es Sanktionen bis zu 30% vom Regelsatz nicht als verfassungswidrig ansieht.

Wer mit den 449,- Euro (bzw. ab Oktober auch etwa 500,- Euro) nicht über die Runden kommt, wird mit einem Dritttel weniger auch nicht besser auskommen und gewiss nicht motivierter sich um einen neuen Job kümmern.

Darum geht es ja aber gar nicht. Die Sanktionen sind als Abschreckung gedacht, um ALG2-Empfänger möglichst gefügig zu machen.

Aber was wirklich die Nummer unwirksam macht, ist die "Quote": Jobcentermitarbeiter müssen eine gewisse Menge "Kunden" im Monat sanktionieren, das ist Vorgabe (Insiderberichte kann man ergoogeln). Also werden Gründe gefunden, warum jemand sanktioniert werden soll und sehr beliebt sind "kurzfristig angesetzte Termine" oder Vermittlungsvorschläge, die während der genehmigten (!) Urlaubszeit in Mengen reinflattern, auf die der Betroffene aber u.U. gar nicht im Zeitfenster (3 Werktage) reagieren kann.
Im Grunde werden Fallen ausgelegt, in die Betroffene leicht tapsen können und dann wird vielfach ungerechtfertigt sanktioniert: viele Sanktionen werden nach einem Rechtsstreit zurückgenommen, aber welcher Hartz-IV-Bezieher hat das Geld für einen Anwalt? Hier kommt das maximale Machtungleichgewicht zum Zuge, die Betroffenen werden Behördenwillkür und staatlicher Gewalt gleichermaßen schutzlos ausgeliefert.

Ja, das ist richtig. Die Zielvorgaben, eine bestimmte Sanktionsquote zu erreichen, gehen an Sinn und Zweck einer Sicherung des Existenzminimums vollkommen vorbei.

Florida-Rolfs und ganze Hartz-Clans lassen sich davon nicht abschrecken, die wissen, wie man das System zum Vorteil nutzen kann.

Es wird sich in jedem System, egal um was es sich handelt, Missbrauch finden lassen. Ob das nun Florida-Rolf oder CumExOlaf ist, ist nebensächlich. Hauptsache die Medien haben etwas, um die erzürnte Volksseele in ungefährliche Bahnen zu lenken. Brot und Spiele halt.

Aber die sind nicht die Masse, sondern vielleicht 1 - 2% aus der Gesamtmenge von Beziehern. Und wegen denen fährt man die ungerechte, gewaltbehaftete Sanktionspolitik gegen die restlichen 98%? Das ist nicht zu rechtfertigen, deshalb verfehlen die Sanktionen ihr Ziel. Die Ehrlichen straft man, die Unehrlichen nutzen das System auf Kosten aller anderen aus.

Besser? Die Grundsicherung ist nicht sanktionierungsfähig. Auch die Mitwirkungspflicht und die Wiedereingliederungsvereinbarung gehören auf den Prüfstand. Statt dessen sollte es Boni-Programme geben, mit denen man den Bezug erhöhen kann. Wer seine 4 Bewerbungen in der Woche schreibt, auf 16 Bewerbungen im Monat kommt, erhält einen Bonus von 80,- Euro. Online-Bewerbungen verursachen keine Kosten für Briefpapier, Mappe, Umschlag und Porto. Jedes Bewerbungsgespräch gibt 20,- Euro Aufwandsentschädigung, wer nur 2 Minuten zu Fuß läuft, hat Glück. Usw usf. Am Ende soll, bei passender Mitwirkung, eben ALG-II mit einem Bonus um etwa ein Drittel aufgebaut werden können (449,- -> 600,- / 500,- -> 670,- Euro). Wer nix macht, dem entgehen eben 150 bzw. 170 Euro, aber die Grundlagensicherung bleibt unangetastet.

Interessanter Vorschlag, dem könnte ich auch zustimmen.

Auch gehören ALG-II-Bezieher nicht bei den Minijobs benachteiligt: wer so einen Job macht, sollte die volle Summe verdienen und auch keine Anrechnung befürchten müssen. Ab Oktober sind das 540,- Euro Zuverdienst. Wer also Grundsicherung + Boni + Zuverdienst für sich sichern kann, käme dann auf 1210,- Euro. Zuzüglich dazu Miete und Nebenkosten. Da liegen wir bei über 2000,- Euro. Netto, wohlgemerkt.

Dem auch...

Jetzt kann jemand "zu viel" rufen. Dass es "zu viel" wirkt, liegt daran, dass die Erwerbstätigen schlichtweg viel zu wenig verdienen. Wenn man das Lohnabstandsgebot hernimmt und die Aussage trifft, dass man von seiner Hände Arbeit auch gut und frei jeglicher Existenzängste leben können muss, dann müsste allein durch eine Mindestlohntätigkeit ein Nettoeinkommen von ca. 2500,- Euro erzielt werden können, also rund 3800,- Euro brutto! Facharbeiter müssten mit mind. 4000,- Euro, Techniker, Bachelors und Meister mit mindestens 4500,- Euro brutto auf dem Gehaltszettel rechnen können. Ingenieure, Akademiker usw. entsprechend noch mehr. Und das bei den Lebenshaltungskosten Stand Januar 2022.

Das ist absolut korrekt. Mit dem üblichen Argumentationskäse, dass das Existenzminimum nach SGBII zu hoch und deshalb der Abstand zu Einkommen aus Lohnarbeit zu gering sei, soll nur wieder den Zorn in die gewünschte Richtung lenken. Nicht, dass noch jemand auf die Idee käme, einen größeren Anteil vom erzielten Gewinn zu beanspruchen, das wäre ja der Untergang des westlichen Abendlands.

Zum Abschluss das Rechenbeispiel meiner Frau gestern Abend (ca.-Angaben):
- ALG II 500,- Euro
- ALG II Partner - 450,- Euro
- Kindergeld für beide Kinder: je 220,- Euro
----------------
- rund 1400,- Euro
Dazu kommen Miete, Nebenkosten und (anteilig) Energiekosten, außerdem die KiTa-Gebühren. Addiere ich alles auf, dann sind das über 2600,- Euro (einfach KiTa). Ab Januar geht der Kleine auch zu erhöhtem Satz (da unter 3 Jahren) ebenfalls in die KiTa, was nochmal run 350,- draufpackt. Wir liegen damit bei ca. 3000,- Euro, die's nach der Rechnung an Mitteln gäbe, wenn alle Förderungen ausgeschöpft würden und keine Förderung die andere beeinflusst.

Aktuell gehe ich arbeiten, meine Frau erhält als Studentin BaFög in Höhe von ca. 1000,- Euro. Damit liegen wir bei rund 3600 Euro im Monat inkl. Kindergeld. Das wären also "ganze 600,- Euro" mehr. Dieses Jahr. Nächstes Jahr kloppt uns ja dann die Nachzahlung eine rein, ich rechne mit rund 200,- Euro Mehrbelastung im besten Falle. Bleiben noch ganze 400,- Euro "mehr" übrig zum Nixtun. Auch wenn meine Frau arbeiten geht, wird es, solange die Kids in der KiTa sind oder die Grundschule besuchen, nur 20 Stunden geben, das ist zwar für eine fertig studierte Sozialarbeiterin etwas mehr als die Transferleistung BaFög, aber nicht wirklich viel mehr.

Also wenn's Leben "zu teuer" wird, weil die Einkommen aus ehrlicher Arbeit nicht mit der Inflation mitziehen - und zwar der realen Inflation, die bei über 50% liegt, bei Energie schon bei 500% - ist die einzig sinnvolle Entscheidung, das Werkzeug in den Kasten zu legen, den Arbeitskittel auszuziehen und dem Chef ein schönes Leben zu wünschen, weil es sich einfach nicht mehr lohnt, für ein Almosen schaffen zu gehen und dafür teuren Sprit ins teure Auto zu lassen.
Wenns der Staat zahlt, weil sich Erwerbsarbeit nicht mehr lohnt, sollten die Entscheidungsträger endlich die Weichen stellen und die Einkommen drastisch (!) nach oben korrigieren, statt bei denen zu kürzen, die im Existenzminimum rumvegetieren.

Dazu gehört auch, dass Arbeitnehmer-Vertretungen wieder das werden, was sie einst waren, schlagkräftige Vertretung der Interessen der Lohnabhängigen.
Dazu müssten aber auch die Gewerkschaften grundlegend reformiert werden, die Gewerkschaften wurden ja durch die Politik der letzten Jahre zielgerichtet geschwächt und die Führungsposten mit "passendem" Personal bestzt..
Anscheinend sind wir bei diesem Thema gar nicht soweit auseinander, auch ich bin der Meinung, dass die ALG2-Sätze (und auch die Löhne) deutlich zu niedrig sind. Nur die rechtliche Beurteilung durch das BVG sieht das anders.

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