Ice Tea schrieb am 10.08.2021 15:39:
Nein, Sie verwechseln "physikalisch/chemische" Voraussetzungen mit Ursache für eine willentliche Entscheidung, als wäre die "Akkumulation von Ladungsträgern zu einem Erregungspotential" die Begründung für eine Entscheidung, Handlung, etc.
Überprüfen Sie doch bitte Ihre Entscheidungen, einen Artikel zu lesen, sich kritische Gedanken darüber zu machen, den Beschluss sich einzuloggen und einen Kommentar zu schreiben. Das alles soll nun in "Ladungsträgern" und einer möglichen Erregung begründet sein?
Durchaus! Das Gehirn berechnet pausenlos, welche bewusste Handlung, welche Entscheidung ihm (resp. seinem Träger) am meisten nützt. Das bewusste "Denken", das Abwägen ist nichts anderes, als ein Bewusstseinsaufschluss der Zwischenergebnisse dieser Berechnungen. Wenn man zwischen zwei Alternativen hin- und hergerissen ist, zeigt das, dass das Gehirn mehr und mehr Vorsysteme in die Berechnung einbezieht.
Wenn dann ein Neuron, das die Differenz zweier Eingangspotenziale vergleicht, ein bestimmtes Erregungspotenzial feststellt, dann feuert es und die verbundenen Neuronen initiieren die Handlung – die in den meisten Fällen darin besteht, das Ergebnis abzuspeichern und für eine spätere, nach außen hin sichtbare Handlung abrufbar zu machen.
Die Verlängerung, diese "Ursache" in noch andere, weiter davor liegende "gewisse Vorsysteme" zu schieben verlängert auch nur den fehlerhaften Gedanken Erklärungen von Willensentscheidungen außerhalb des Denkens finden zu wollen, in einem äußeren "Verursacher", der der Willensbetätigung entzogen ist.
Keineswegs, denn das menschliche Denken ist ebenso ein "Vorsystem", wie Sie diesen Begriff fehlinterpretieren. Genauer ist das menschliche Denken das Nachsystem, die Gerichtsverhandlung, die Rechnungsstelle, bei der die Produkte aller Vorsysteme, also aller äußeren Reize, aller gespeicherten Erfahrungen, aller Emotionen in einem komplexen Rechenprozess gegeneinander aufgewogen werden und je nach Ergebnis die Handlung initiiert.
"Erregungspotential", "Drang", "Trieb" sind solche Konstrukte, die nur das eine belegen sollen, dass nämlich, etwas zugespitzt gesagt, Entscheidungen gar keine Entscheidungen sind, jedenfalls nicht beruhend auf Gedanken, sondern begründet durch "Ursachen" außerhalb des Bewusstseins.
Wie gerade begründet: Nein! Außerdem sind "Erregungspotential", "Drang", "Trieb" völlig unterschiedliche Herangehensebenen. "Erregungspotential" widerspiegelt die mikroskopische, physikalische Analyse, während "Drang" und "Trieb" die psychologische und psychoanalytische Ebene mit phänomenologischen Entitäten repräsentieren.
Diese bewusst gepflegte Weltfremdheit neben den tausend täglichen Entscheidungen, die man von anderen mitbekommt und auch selbst trifft, führt natürlich nicht zu einer Entschärfung der Interessenskollisionen in der Klassengesellschaft. Kaum einer würde sagen, mit der Mieterhöhung folgte mein Vermieter eben nur einem äußeren, womöglich unbewussten Drang, oder der Personal-Manager beim Freisetzen von Kostenfaktoren,etc. .
In solchen alltäglichen Fällen, weiß ja jeder, dass es sich um "Entscheidungen" handelt, die sich aus den entsprechenden Interessen begründen und nicht aus Ladungsträgern.
Warum sehen Sie darin einen unvereinbaren Gegensatz? Wenn ein Computer irgendeine Anlagestrategie optimiert, dann bestimmt er ja auch das beste Ergebnis im Interesse seines Programmierers mit Hilfe von Ladungsträgern. Nichts anderes macht das Gehirn, das von seinem Träger dahingehend programmiert worden ist, in seinem Interesse zu rechnen.
Die von Ihnen erwähnten sozialpolitischen Phänomene sind indes auch besser bei der phänomenologischen Analyse aufgehoben, als bei der Beschreibung des Gehirns als Schaltungskonglomerat. Zur Beschreibung abstrakter Bewusstseinszwischenstufen wie "Trieb" und "Drang" passt dann auch in der Tat der "Freie Wille" für die es in der elementaren Betrachtung keine Entsprechung gibt.
Das "Märchen" vom unfreien Willen macht aber dennoch Sinn, denn gerade in einer Klassengesellschaft, die dem Willen ungezählte Gesetze, Regeln, moralische Verhaltensnormen aufmacht, damit der sich in gebotener Weise frei-willig daran hält, ist es psychologisch sehr produktiv und publikumswirksam den ansonsten gelobhudelten "freien" Willen dann aber auch wieder zu entwerten, als "bloßen Trieb" z.B. in Frage zu stellen und bei Problemen in den gesellschaftlichen Gegensätzen zum persönlichen Problem zu erklären.
Darüber wie die Behandlung solcher "Dysfunktionalitäten" - von zuviel und unerwünschtem Willen - dann praktisch geht, psychologisch und pharmazeutisch, hat der Autor vor einigen Wochen einige Beschreibungen geliefert.
Und dass das Ganze, auch bei Haynes u.a., wie es sich für das Selbstverständnis gesellschaftlich nützlicher Wissenschaftler gehört, besonders unter dem Gesichtspunkt von Law & Order, bzw. Rechtsverstößen und Bestrafung, für relevant befunden wird, ist hier ja bereits mehrmals angeklungen und wird wohl im nächsten Teil genauer erläutert.
Dafür wünsche ich Ihnen schon mal eine erbauliche Lektüre.
Vielen Dank für die Anregungen und die fruchtbare Diskussion!