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  • elklynx

mehr als 1000 Beiträge seit 07.04.2004

Kurze Replik

1. "seit 1200 Jahren"? Das ist doppelt falsch, weil

a) der Beginn der Dreigeschlechtlichkeit in germanischen Sprachen überhaupt nicht klar belegt ist. Es wird davon ausgegangen, dass Protogermanisch zweigeschlechtlich war (animate-inanimate oder für Anglophobe Utrum-Neutrum). Überwiegend einig ist man sich lediglich, dass die Dreigeschlichtlichkeit von Latein übernommen wurde - aber wann ist völlig offen, weil die Henker von Arminius keine langen, deutschsprachigen Texte geschrieben haben. und

b) Das Problem, das wir heute haben, nicht nur Folge unseres mittelalterlichen generischen Maskulinums allein ist, sondern auch der Etablierung der Feminisierungen in der Frühen Neuzeit, während der Aufklärung. Vorher war eine Frau, die Koch war (falls es sowas gab, eben ein/der Koch und die Frau, aber dank der Aufklärer aus Frankreich haben sich Deutsche vorschreiben lassen, dass eine Frau die Koch ist plötzlich Köchin zu sein habe. So ein unertragbares Sprachdiktat, das uns nach Voltaire und Kant auch die Herren Goethe und Duden und wie diese hochtrabenden, akademischen Sprachbefehldiktatoren alle hießen aufdoktriniert haben. Wenn man diese Sprachverhunzung des 17. Jh. mal zur Kenntnis nimmt, versteht man vielleicht auch, warum Deutsch so eine Ausnahmesprache in Europa ist, die sich überhaupt mit einem Zusatzmorphem abmühen muss. Ja, der Kehlschlusslaut wird zusätzlich vors Weiblichkeitsmorphem gesetzt, um es zu einem Masku-Plus-Femininum zu machen, und das ist komplexer als jedes Utrum, aber warum haben wir das? Weil im Deutschen eben dank der Sprachdiktatur der Aufklärer das Femininum nicht wie der Unterschied zwischen Dominus und Domina sondern eher wie zwischen Dominus und Dominussa gebildet wird. Man darf ja gerne unnötig komplexe Sprachproskriptionen kritisieren, dann aber bitte ohne Doppelmoral und dann soll der Autor sich ehrlich hinstellen und sagen, dass das ostnorwegische, dänische und schwedische Utrum besser sei, wo aus ei Kvinne und Kvinna dann en Kvinne und Kvinnen genau wie bei en Mann und Mannen wird. Oder wie halt im Englischen mit my Woman is a MistressMaster. Aber sich einfach hinstellen und behaupten, generisches Maskulinum wäre toll, weil es schon im Frühmittelalter toll gewesen wäre, wo es die Feminisierungen noch gar nicht gab, ist IMHO Quatsch.

2. Den Glottisschlag in der Weise zu Framen, wie es in der Glosse geschieht, ist dort, wo es in einer Reihe mit allen anderen Genderneutralisierungen geschieht, akzeptabel, aber dort, wo es überzeichnet wird, als ob man sich dabei die Zunge brechen würde, macht man sich als Deutscher, der eben diesen Glottisschlag immer und überall (gesprochen: imma *glottischlag* und *glottischlag* üba*glottisschlag*all) zwischen zwei vollen Vokalen ausspricht, etwas unglaubwürdig.

3. "Soziolekt" ist an sich kein Schimpfwort. Beim Glottisschlag hätte man ein paar Stellen kürzen können, um den Essay besser zu machen, bei "Soziolekt" hätte definitiv mehr ausgebaut werden müssen. Ummet ma klarzustelln, wennde in Hochdeutsch redest, redeste schon in Snobdeutsch! Allet klah, Keule? Ick jehör zu den Berlinan, die noch wissen, dass ooch wia Berlina dujschoss berlinan und wia leidn schwea unta dem Voewoof, dasswa "Mundgülle" redn wüedn - und ditt is keene Übatreibung, vor allem Berlina, die sich ditt Berlinan selbst vabietn, bezeichnen ditt als "Mundgülle". Oder um mal ein Standarddeutsches Sprachdiktat zu beleuchten, das meine Generation (letzte Jungpioniere, Graubereich zwischen GenX und Millennial) in der Web-Forenwelt auf den Zeiger bringt: "Ich suche mir noch aus, wer mich duzen darf, das ist respektlos, wenn Sie mich nicht Siezen" - sorry Großväterchen, aber wir aus dem Internet 1.0 und Web 2.0 duzen in "Community Foren" prinzipiell jeden, auch dich, und uns bringt das Gesieze genauso auf die Palme, wie dich das Glottisschlag-Innen. Globales Dorf, unsere Generation hats etabliert und jetzt kommen Leute aufgrund ihres Renteneintritts dazu und befehlen uns in unserem angestammten Kulturraum die, hier ist es eine Neuregelung, Aufdoktrinierung des Siezens. Eben, keine Doppelmoralitäten: Soll ich jeden Opa, der mich zum Siezen auffordert, so anpflaumen, weil er meinen Kulturraum mit Diktat verändern will?

4. Und das bringt uns zum Kern der Sache. Die Glosse ist halt eine Glosse, sie ist übertrieben einseitig und hämmert uns vor allem die Wahrnehmung der Anti-Woke-Isten ins Gesicht. Das ist manchmal notwendig, damit wir sie verstehen. Verstehen heißt aber nicht Recht geben. Die meisten Linguisten, denen ich begegnet bin, würden sagen, dass beides gilt: Das Masku-Plus-Femi-Morphem ist sowohl nicht so wild als auch na klar ein Beinbruch. Das kommt immer darauf an, auf welchen Standpunkt bei welchem gegenüber man sich bezieht. Ist es so sehr Beinburch, wie es von den Anti-Woke-Isten dramatisiert wird? Nein, absolut nicht, es ist manchmal nichtmal ein Laut mehr als beim Femininum. Nehmen wir Lehrer:
feminin: die Lehre-rin /dileʁəʁɪn/
maskufemi: de Lehra-in /dəleʁɐʔɪn/
Beide Wörter sind absolut gleich lang und absolut gleich aufwändig zu sprechen. Der Glottisschlag ist ein stinknormaler Plosiv wie jeder andere auch und das IPA-Zeichen einer der ältetesten Buchstaben der Welt! (schon die Phönizier verwendeten diesen Buchstaben, weil ihnen der Glottisschlag ein wichtiger Konsonant war) Und gerade die Deutschen sind, wie in 2. gezeigt, gewohnt, den Glottisschlag zu sprechen. Will man weniger unnötige Komplexität in der Sprache, müsste man die Feminisierungen in der Deutschen Sprache, die seit dem 17. Jahrhundert verbreitet sind, ausrotten. Ich würde das ästhetisch finden, aber würde man die Anti-Woke-isten so besänftigen können? Beinbruch ist natürlich schon jedes Umlernen in der Sprache, aba, ick hoffe meen Berlinan hattitt jezeicht, Hochdeutsch war schon immer präskriptiv.

5. Das "Sprachdiktat" existiert ausschließlich in offiziellen, amtlichen Schreiben und nirgendwo sonst. Ein Styleguide von der Tagesschau ist dagegen ein Styleguide, der noch ganz andere Sachen enthält, beispielsweise die Frage: Ist "erinnern" reflexiv oder wie im Englischen unreflexiv? In "Gebildetendeutsch" ist es zunehmend unreflexiv (sicher ein Einfluss aus dem Englischen) und ein Styleguide für eine Fernsehsendung berücksichtigt sowas - deswegen gibt es Styleguides und bei weitem nicht nur bei und bei weitem nicht erst seit "gendergerechter Sprache". Wenn man älter wird, ich werds ja vielleicht auch, fühlt sich das manchmal wie ein Beinbruch an. Ich stolpere innerlich, wenn ich wieder einen Professor - selbst Leute, die älter als ich sind - sagen höre: "Ich erinnere das noch genau". Aber:

6. Sprache verändert sich. Die aktuelle Einheitsübersetzung der Evangelischen und Katholischen Kirschen Deutschlands ist keine 100 Jahre alt und ich habe ein Lutherzitat, in dem es noch heißt: "Aus einem verzagtem Arsch, kommt niemals ein fröhlicher Furz!" Was sind wir nur alle für Sprachverhunzer, dass wir die schöne KNG-Kongruenz des Deutschen des 16. Jh. vergewaltigen, in dem wir heute formulieren würden: "Aus einem verzagten ..." DATIV, WIR SPRACHVERHUNZER, DATIV!

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (10.03.2024 14:28).

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