Selbstverständlich lasse ich die Menschen, wie sie sind, denn ich kann außer mir selbst niemanden ändern. Doch niemand kann "nicht urteilen", man be- und verurteilt immer, ob man sich das nun eingesteht oder nicht. Ich bin ja kein Gericht, das jemanden verurteilt und dann abstrafen kann. Aber Urteile fällen kann man nicht vermeiden.
Was Sie vermutlich wirklich meinten: Man soll sich nicht überlegen fühlen, nur weil man ein paar Bücher gelesen hat. Das tue ich auch nicht, zumindest nicht grundsätzlich. Wenn es aber darum geht, die Lage zu überblicken, also um das Maß des Weitblicks, dann bin ich mit meiner Belesenheit und den Zusammenhängen, die sich mir daraus ergeben haben, in dieser Hinsicht den meisten schon überlegen. Was soll auch gegen partielle Überlegenheit einzuwenden sein? Einwände könnten eigentlich nur im Hinblick auf die narzißtische Struktur, die heute fast jeder aufweist, verstanden werden: Jeder möchte gerne in seiner Einbildung auf jedem Gebiet der Beste sein, und da kann man es dann nicht ertragen, wenn jemand behauptet, durch systematische Studien (denn nichts anderes mache ich mit regelmäßigem Lesen von Sachbüchern zu ausgesuchten Themen) ein überlegenes Wissen zu besitzen, überlegen in der Weite der Übersicht, die sich daraus ergibt. Ich fühle mich überlegen, wenn ich ganz offensichtlich überlegen bin. Das ist aus meiner Sicht nichts verwerfliches, sondern eine einfache Tatsache. So fühle ich mich z.B. hinsichtlich Software-Entwicklung einem Anfänger überlegen, weil ich das schon seit mehr als 25 Jahre mache. Ich fühl mich hinsichtlich gesellschaftlicher Zusammenhänge auch allen überlegen, die keine Bücher lesen und täglich TV glotzen. Das ist einfach ein Fakt, ich bin denen einfach überlegen, das merkt man auch hier beim Austausch von Argumenten (falls es überhaupt einmal soweit kommt) bzw. deren auffallendem Fehlen. Oft werden nur "gefühlte" Meinungen verhandelt, die jeglicher Faktengrundlage entbehren, einfach nur deshalb, weil's der Mainstream so vorgibt. Auch da fühl ich mich nicht nur überlegen, da bin ich überlegen.
Ihre Warnung vor Überlegenheitsgefühlen macht, wie bereits erwähnt, nur im Hinblick auf den weitverbreiteten Narzißmus Sinn, der immer gerne alle Überlegenheit bei sich verbucht – verbuchen muß, um überhaupt überleben zu können. Nur deshalb reagieren die Menschen auf sichtliche Überlegenheit immer gleich so angepißt. Wie oft hat man mir hier schon vorgeworfen, man fühle sich von mir bevormundet, und das nur, weil ich eigenständige, vom Mainstream abweichende Ansichten und Überzeugungen vertrete. Erst die narzißtische Fehlentwicklung, die jeden Fleck auf dem narzißtischen Schild zur Beleidigung hochstilisiert, macht Überlegenheit zum Problem.